Viele Uhren-Hersteller werben heute gerne damit, Manufakturkaliber zu verwenden, um sich von Herstellern abzugrenzen, die “nur” Standardkaliber verbauen und um ein gewisses Maß an Exklusivität auszustrahlen – die Dehnung des Begriffs bzw. der klassischen Definition macht’s möglich.
Dabei war vor einigen Jahrzehnten die Frage, ob eine Marke hauseigene Manufakturkaliber verwendet oder nicht, gar kein großes Thema: Unternehmen wie Unitas, Venus, Lemania und Valjoux waren hochspezialisierte Lieferanten für quasi alle großen Uhrenmarken: Omega beispielsweise verwendete lange ETA-Standardkost für die beliebte Seamaster 300M – genauso wie Breitling und IWC (Breitling tut das bis heute noch unter der Bezeichnung Kaliber 17; dazu später mehr). Viele Uhrenhersteller belieferten sich auch munter gegenseitig: Rolex verwendete beispielsweise Zenith-Rohwerk für das Daytona-Kaliber 4030 – erst anno 2000 schloss der Schweizer Luxusuhren-Platzhirsch die letzte verbliebene Lücke im Spektrum hauseigener Kaliber.
Die Quarzkrise, also die Überschwemmung westlicher Märkte mit günstigen Quarzuhren aus Japan, sorgte dafür, dass viele westliche Uhrenhersteller die Produktion eigener Werke eingestampft haben – sicherlich ein wesentlicher Grund für die Marktmacht bei Standardkalibern, die sich die Swatch Group mit den Eingliederungen von Firmen wie ETA, Unitas und Valjoux in den folgenden Jahren aufbauen konnte.
Tipp: Manufakturkaliber vs. Standardkaliber war auch das Thema im ChronoBros-Livestream, von und mit Mario von CHRONONAUTIX und Uhrmacher Leon von ChronoRestore:
Wenn man von Standardkalibern spricht, meint man gemeinhin Kaliber “von der Stange”, die vergleichsweise günstig von spezialisierten Herstellern in großen Mengen produziert und recht “offen” an viele verschiedene Marken geliefert werden. Die Schweizer ETA SA hatte diese Rolle sehr lange inne (mit Klassikern wie dem ETA 2824 oder dem ETA Valjoux 7750). Nachdem ETA mittlerweile nur noch für die eigenen Konzernmarken der Swatch Group aktiv ist (siehe z.B. Powermatic 80), hat vor allem die Sellita SA die Rolle als Standardkaliber-Lieferant übernommen (auf Grundlage von ETA-Konstruktionen, die aus dem Patentschutz gelaufen sind). Aus Japan seien hier natürlich noch Seiko und Citizen genannt, die beispielsweise mit Kalibern wie dem Seiko NH35 oder dem Citizen-Miyota 8215 bzw. 9015 Standardkaliber anbieten, die in etlichen, eher günstiger positionierten Marken ticken.
Uhrenmarken mit hauseigenen Uhrwerken bzw. Manufakturkalibern gewannen 2002 plötzlich an Bedeutung: Das damalige Oberhaupt der Swatch Group, Nicolas Hayek, kündigte aus dem Nichts an, dass die Belieferung mit ETA-Kalibern an Marken außerhalb der Swatch Group eingestellt werden soll. Obwohl sich die Schweizer Wettbewerbskommission WEKO einschaltete und der Swatch Group anordnete, weiterhin Rohwerke an externe Marken zu liefern, war Hayeks Aussage für viele Marken ein Weckruf – Breitling entwickelte beispielsweise daraufhin sein Manufakturkaliber mit Chronographenkomplikation B01.
Im klassischen Sinne spricht man von einem Manufakturkaliber, wenn ein Uhren-Hersteller ein eigenes Werk entwickelt bzw. konstruiert und mit hoher Fertigungstiefe selbst, d.h. im eigenen Hause, produziert (die Tatsache, dass vereinzelt Komponenten, wie etwa die Spiralfedern, extern beschafft werden, ändert nichts Wesentliches an dieser Definition). Manche Uhrenfreunde sprechen auch davon, dass Manufakturkaliber einen gewissen händischen Wertschöpfungsgrad mitbringen müssen, um dem ursprünglichen Begriff Manufaktur, von “manu” (Hand) und “facere” (machen), gerecht zu werden. Das ist allerdings in der heutigen Zeit eine hoffnungslos romantische Vorstellung, denn die Produktion von Komponenten für Manufakturkaliber findet natürlich im Wesentlichen hochautomatisiert statt, d.h. mit Werkzeugmaschinen, die automatisiert fräsen, bohren und dergleichen – wenn händische Arbeit stattfindet, dann am ehesten im Rahmen von Dekorationen. In diesem Sinne passt auch der üblicherweise im Englischen verwendete Begriff für Manufakturkaliber eigentlich viel besser, da er den entscheidenden Aspekt hervorhebt: in-house caliber, also hauseigenes Kaliber.
Ein perfektes Beispiel für die Definition von Manufakturkalibern im klassischen Sinne ist Grand Seiko: Die Entwicklung und Produktion aller Uhrwerke – egal ob Quarz, Spring Drive oder mechanisch – erfolgt bei den Japanern im eigenen Hause. Beeindruckend: Sogar die Quarzkristalle, die für die Quarz- und Spring Drive-Kaliber von Grand Seiko benötigt werden, werden im eigenen Haus gezüchtet. Auch die schwierig zu fertigenden Spiralfedern aus der Legierung SPRON für die mechanische Kaliberreihe 9S wird im eigenen Hause produziert. Diesen Aspekt kann man gar nicht genug betonen, da eine hohe Fertigungstiefe absolut keine Selbstverständlichkeit ist und nicht wenige Uhren-Hersteller viele Komponenten von allen möglichen externen Lieferanten zusammenkaufen müssen. Gut für Grand Seiko: Eine hohe Fertigungstiefe bedeutet vor allem eine hohe Unabhängigkeit – aber auch ein höheres finanzielles Risiko.
Manufakturkaliber ticken in der Regel in höherpreisigeren Uhren von größeren Herstellern wie Rolex, Omega & Co. Ausnahmen bestätigen die Regel: Der kleinere Hersteller Titoni hat seit ein paar Jahren ebenfalls ein eigenes Manufakturwerk mit überdurchschnittlichen 72 Stunden Gangreserve in petto, das aber nur in den Spitzenmodellen wie der Seascoper 600 zum Einsatz kommt – in der günstigeren Seascoper 300 beispielsweise tickt ein Sellita SW200 Standardkaliber in COSC-Ausführung. Auch die eher kleine französische Marke YEMA hat vor einigen Jahren überraschend ein hauseigenes Manufakturkaliber herausgebracht.
Dass vor allem größere Uhrenhersteller Manufakturkaliber in petto haben ist nur logisch, denn, um ein solches “auf die Beine zu stellen” bedarf es großer zeitlicher und finanzieller Anstrengungen bzw. Investitionen: NOMOS Glashütte lancierte beispielsweise 2005, nach über sieben Jahren Forschung und Entwicklung, das erste Modell mit hauseigenem Manufakturkaliber. Das 13 Jahre später eingeführte Manufakturkaliber DUW6101 hat mehrere Mannjahre Entwicklungszeit benötigt. NOMOS kann für die Produktion der Manufakturkaliber auf einen eigenen Werkzeugmaschinenpark zurückgreifen: Im Glashütter Ortsteil Schlottwitz steht eine moderne Industriehalle, in der sich CNC-gesteuerte Dreh- und Fräsmaschinen aneinanderreihen.
NOMOS fertigt alle wesentlichen Komponenten der Kaliber im eigenen Hause, sogar inklusive aufwendig zu produzierender Komponenten wie den Unruhreif, ein mit Speichen bzw. “Schenkeln” versehenes Schwungrad, dessen Achse mit der Spiralfeder verbunden ist. Um den exakt hinzubekommen (und das ist mit Blick auf den Schwerpunktfehler absolut entscheidend), setzt NOMOS Glashütte sieben unterschiedliche Werkzeuge in einem CNC-Drehautomaten in der hauseigenen Fertigung ein. Auch ein hauseigenes Assortiment (Hemmung; NOMOS-Swing-System), bestehend aus Unruh, Spirale, Ankerrad und Anker sowie weiteren Komponenten, kann NOMOS fertigen – alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Aus Herstellersicht bringt die Nutzung hauseigener Manufakturkaliber drei wesentliche Vorteile mit sich:
- Prestige, Image und Exklusivität: Nur sehr wenige Uhrenhersteller haben das nötige Wissen, um eigene Kaliber fertigen zu können – das gilt insbesondere für die Hemmung. Das lässt sich in der Kommunikation gegenüber Endkunden nutzen.
- Unabhängigkeit: Seitdem sich ETA nur noch der Entwicklung und Lieferung von Kalibern innerhalb des eigenen Konzerns (Swatch Group) widmet (siehe z.B. Powermatic 80), ist die massiv gestiegene Marktmacht von Sellita unbestreitbar. Die Investition in die Entwicklung eines Manufakturkalibers und einen eigenen Werkzeugmaschinenpark ist daher aus strategischer Sicht sicherlich keine schlechte Idee.
- Flexibilität bei der Umsetzung spezieller technischer Eigenschaften, zum Beispiel besonders flache Abmessungen: In der NOMOS Tangente neomatik beispielsweise tickt das 2015 lancierte, hauseigene Kaliber DUW 3001 – ein Automatik-Kaliber mit klarem Schwerpunkt auf eine flache Bauweise, da Teile der Mechanik zwischen Werkplatte und Dreiviertelplatine gepackt wurden, statt wie üblich “oben drauf”. Die Konstrukteure bei NOMOS verringerten gleichzeitig die Dicke der Komponenten auf ein Minimum und die Sicherheitsabstände zwischen den Zahnrädern und der Zugfeder. Viele der Neuerungen sind durch moderne, präzisere Fertigungstechniken möglich geworden, manche Bauteile werden ähnlich wie Computerchips fotolithografisch hergestellt. Zum Vergleich: Das Manufakturkaliber DUW 3001 kommt auf 3,2 mm, das Standardkaliber Sellita SW 200 auf 4,6 mm. Grade bei einer dressigen Uhr wie der NOMOS Tangente ist das ein entscheidender Faktor, damit die Uhr an sich möglichst flach konstruiert werden kann.
Manufakturkaliber: Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt
Heute stolpert man immer häufiger über den Begriff Manufakturkaliber, denn viele Uhrenhersteller dehnen den Begriff und interpretieren ihn – sagen wir mal – eigenwillig, um ihn irgendwie in der Kommunikation nutzen zu können und einen gewissen Grad an Exklusivität zu vermitteln. Denn der Begriff Manufakturkaliber ist nirgends “hart” definiert oder gar geschützt.
Beispiel Norqain: Die junge Uhrenmarke setzt teilweise auf Standardkaliber wie das SW200-1, teilweise aber auch auf Kaliber aus dem Hause Kenissi – und bewirbt diese mit Manufakturwerk. Zitat: “NORQAIN MANUFAKTURWERK (NN20/1) von Kenissi”.
Kenissi gehört zu 80 Prozent der Rolex-Tochter Tudor sowie Chanel, die sich für rund 20 Millionen Franken mit 20% Anteil “eingekauft” haben. Als Leiter von Kenissi ist der Schweizer Clemens Gisler eingesetzt, der vor eineinhalb Jahren zu Rolex als Verantwortlicher für Industrialisierung und Produktion kam – die Personalie zeigt, dass Rolex bei Tudor und Kenissi die Fäden in der Hand hält. Seit März 2023 freut sich Kenissi über die neueröffnete Produktionsstätte in Le Locle, in dem 150 Leute Uhrwerke zusammenbauen. Und die Vergrößerung war auch dringend notwendig: Kenissi-Kaliber finden nicht nur ihren Weg in die Uhren der beiden Eigentümer, Tudor und Chanel, sondern auch an ausgewählte Drittmarken wie Breitling, Fortis, TAG Heuer, Bell & Ross, Ultramarine oder eben Norqain.
Kenissi-Kaliber haben einen sehr guten Ruf und dank überdurchschnittlich hoher Gangreserve ein praxisrelevantes Differenzierungsmerkmal im Vergleich zu Standardkalibern – dass Norqain hier aber von Manufakturwerk spricht, obwohl weder Konstruktion noch Produktion im eigenen Hause stattfindet, ist dann vielleicht doch etwas zu viel des Guten.
Mehr noch: Rolex/Tudor/Kenissi scheint die Produktion möglichst schnell in industriellem Maße hochfahren zu wollen, wofür ja auch die Belieferung von kleineren Marken wie Norqain spricht. Denn hier gilt das einfache, betriebswirtschaftliche Einmaleins der Stückkostendegression. Wo ist da der Unterschied zu Standardkalibern von Sellita?
Bitte nicht falsch verstehen: Ich begrüße es, wenn ein Uhrenhersteller einen untypischen Weg geht und statt auf den “No-Brainer” Sellita, auf Kenissi-Kaliber setzt – aber nicht, wenn dadurch der Begriff Manufakturkaliber ad absurdum geführt wird.
Die Grenzen verschwimmen
Und noch zwei Beispiele, die zeigen, dass die die klassischen Definitionen von Manufakturkalibern gegenüber Standardkalibern heute gar nicht mehr so eindeutig sind: Das Automatikkaliber G100 von der im Schweizer La Chaux-de-Fonds ansässigen Manufacture La Joux-Perret SA (LJP) ist beispielsweise ein klassisches Standardkaliber, das im Aufbau Ähnlichkeiten mit dem Miyota 9015 hat (siehe hier) -und das ist sicherlich kein Zufall, denn die 1990 als Jaquet SA gegründete Manufacture La Joux-Perret SA ist seit 2012 eine Tochter von Citizen, dem japanischen Mutterhaus von Miyota. LJP hebt sich aber beispielsweise dadurch von der Sellita SA ab, indem die Neuenburger sich mit rund 120 Mitarbeitern auf spezielle Anforderungen an höherwertigere mechanische Uhrwerke spezialisiert haben. Aber wo ist die Grenze? Wie viele Modifikationen sind notwendig, damit man nicht mehr von Standardkaliber sprechen kann?
In diesem Zusammenhang noch ein Beispiel: Das Automatikkaliber im CODE41 NB24 Chronographen basiert auf dem ETA 7750 Standardkaliber, wurde aber merkbar modifiziert, insbesondere mit einer peripheren Schwungmasse, die für den automatischen Aufzug sorgt. Diese befindet sich (anders als bei Standardkalibern) am äußeren Rand des Uhrwerkes innerhalb eines Kugellagers und wird wie auf Schienen durch die Bewegung des Handgelenkes angetrieben. Hinter der Kaliber-Modifizierung steckt die Concepto Watch Factory, die seit 2006 im Schweizer La Chaux-de-Fonds tätig ist und mittlerweile immerhin 115 Mitarbeiter zählt. Concepto produziert alle Komponenten für das Kaliber der NB24, mit Ausnahme der Aufzugsfeder und der Edelsteine, in-house. Kann man nun davon sprechen, dass es sich um ein Manufakturkaliber handelt? Da CODE41 das Kaliber weder im eigenen Hause produziert, noch hauptverantwortlich für die Konstruktion tätig war, kann die Antwort darauf eigentlich nur nein lauten.
Intransparenz wohin das Auge reicht
Leider zeigen sich einige Hersteller äußerst intransparent, wenn es um das tickende Innenleben geht: Breitling zum Beispiel tarnt gerne die Tatsache, dass in der hochpreisigen SuperOcean (ca. 5.000€ Liste) das Standardkaliber Sellita SW200-1 tickt, mit der Werksbezeichnung “Kaliber Breitling 17” (mehr: Breitling SuperOcean Automatic 44 “Tiffany”: Außen hui, innen…).
TAG Heuer bewarb das Calibre 1887 lange selbstbewusst als hauseigen. Zitat: “Das Calibre 1887 setzte als TAG Heuers erstes hauseigenes Uhrwerk neue Maßstäbe und ist heute das zuverlässigste Kaliber auf dem Markt.” Viele Uhrenfans sprachen bei dem Kaliber allerdings von einer Mogelpackung, da das Werk zwar von TAG Heuer in der Schweiz produziert und montiert wird, die Konstruktion des Calibre 1887 aber im Wesentlichen auf dem Seiko 6S37 Chronographenwerk (auch bekannt unter der Bezeichnung Seiko TC78) basiert. Mit anderen Worten baut TAG Heuer das 6S37 auf Basis einer von Seiko gekauften Lizenz nach und benennt es einfach anders. Immerhin: Mit dem Kaliber HEUER 02 hat TAG Heuer heute tatsächlich ein echtes, eigenes Manufakturkaliber.
Und noch ein Beispiel: Das von Panerai im Rahmen der Watches & Wonders 2021 selbstbewusst als Manufakturkaliber angekündigte neue Kaliber P.9200 entpuppte sich später als ein einfaches ETA 2892 Dreizeigerkaliber vom Wettbewerber Swatch mit Chronographenmodul von Dubois Dépraz – eine nicht allzu oft anzutreffende Kombination, die aber ganz sicher keinen Manufakturkaliber-Charakter hat. Immerhin: Panerai ist mittlerweile zurückgerudert und verweist nicht mehr auf eine angebliche hauseigene Manufaktur-Konstruktion. Nur ein Übersetzungs-Schnipsel auf der spanischen Panerai-Seite hat noch eine ganze Weile darauf hingewiesen (“integramente realizado por Panerai” = vollständig von Panerai hergestellt).
Konzernverflechtungen: Beispiel ValFleurier SA
Noch komplizierter wird es, wenn Firmenverflechtungen bei Konzernen zum Tragen kommen – so wie beim Richemont-Konzern. So spricht beispielsweise IWC, Teil des Richemont-Konzerns, beim neuen Vorzeigemodell Ingenieur selbstbewusst von einem Manufakturkaliber – Zitat: Im Inneren der Ingenieur Automatic 40 arbeitet das IWC-Manufakturkaliber 32111 mit automatischem Klinkenaufzug und einer Gangreserve von 120 Stunden.
Bringen wir etwas Licht ins Dunkel: Das Kaliber 32111 (Kaliberfamilie 32000), das in der neuen IWC Ingenieur Automatic 40 tickt, nutzt dieselbe Basis wie das Kaliber Baume & Mercier Baumatic BM12-1975A bzw. BM13-1975A (letzteres hat allerdings keine amagnetische Silizium-Unruhspiralfeder an Bord). Auch Panerai nutzt diese Basis in Form des Kalibers OPXXXIV (jetzt P.900). Die Grundkonstruktion geht wiederum auf das Kaliber Cartier 1847MC zurück. Der Blogger Perezcope berichtete erstmals Mitte 2021 über diesen Zusammenhang. Im Prinzip kommt also dasselbe Kaliber bei vielen verschiedenen Marken unterschiedlicher Preisklassen zum Einsatz.
Kein Zufall: Alle genannten Uhrenmarken (Cartier, Baume & Mercier, IWC, Panerai) befinden sich unter dem Dach des Richemont-Konzerns. Der Richemont-Konzern wiederum lässt mechanische Werke vorrangig bei der Manufacture Horlogère ValFleurier SA produzieren – ebenfalls eine Richemont-Tochter.
Daher stellt sich die Frage: Passt da überhaupt noch der Begriff Manufakturkaliber, mit dem IWC im Rahmen der neuen Ingenieur wirbt? Nun, das ist zumindest diskussionswürdig.
Und die Moral von der Geschicht’?
Ein Uhrenhersteller, der die zeitlichen Ressourcen, das Fachwissen und die finanziellen Mittel aufbringt, um ein völlig neues mechanisches Uhrwerk zu entwickeln und selbst im eigenen Hause zu produzieren, sollte gebührend gefeiert werden. Diese Unternehmen haben meiner Meinung nach zu Recht die Anerkennung vieler Uhrenfreunde.
Bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Verwendung eines Standardkalibers eine Uhr automatisch schlechter macht? Natürlich nicht. Zu einer Uhr gehört so viel mehr als ihr tickendes Innere. Und vor allem: Für mich ist Zuverlässigkeit wichtiger als das Label „Manufakturkaliber“. Denn was bringt mir ein Manufakturkaliber, wenn es nicht zuverlässig läuft? Man denke an das 2018 für die Tudor Black Bay GMT eingeführte Kaliber von Kenissi, das einige Probleme mit dem Datumswechselmechanismus hatte. Auch das mit 120 Stunden Gangreserve sehr üppig ausgestattete Oris-Kaliber 400 hatte mit Kinderkrankheiten zu kämpfen (die mittlerweile behoben sind).
Gleichzeitig bin ich der Meinung, dass man ab einem gewissen Preisschild durchaus ein Manufakturkaliber mit handfesten Vorteilen gegenüber Standardkalibern oder zumindest eine gewisse Besonderheit beim Kaliber erwarten darf (zum Beispiel spannende Modifikationen wie beim Beispiel von Concepto oben). So zum Beispiel:
- Eine besonders hohe, effektiv mögliche Ganggenauigkeit (siehe zum Beispiel Superlative Chronometer von Rolex mit einer Ganggenauigkeit von –2 /+2 Sekunden pro Tag, gemessen nach dem Einschalen des Uhrwerkes)
- Eine deutlich überdurchschnittliche Gangreserve: das Sellita SW200 zum Beispiel kommt auf 38 Stunden, während Uhrenhersteller bewusst den Hebel bei der Gangreserve ansetzen, um sich mit ihren Manufakturkalibern abzuheben (siehe Titoni mit dem T10 und 72 Stunden Gangreserve)
- Besonders flache Bauweise (siehe NOMOS Glashütte)
- Andere besondere technische Eigenschaften wie eine hohe Frequenz (siehe Schnellschwinger-Kaliber in der Zenith El Primero).
Aber egal, ob Manufakturkaliber oder Standardkaliber: Das absolute Minimum ist meiner Meinung nach in jedem Fall ein gewisser Grad an Transparenz, den viele Hersteller in der Realität leider vermissen lassen…
In Teil 2 geht Uhrmacher Leon von ChronoRestore im Detail auf die Technik-Aspekte und die Unterschiede bei der Revision von Standard- und Manufakturkalibern ein.
Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, freue ich mich über ein Like bei Facebook, Instagram, YouTube oder
Auch über WhatsApp kannst du immer auf dem neuesten Stand bleiben – jetzt abonnieren:
Darüber hinaus freue ich mich über Kommentare immer sehr (Kommentare werden in der Regel innerhalb kurzer Zeit geprüft und freigeschaltet). Vielen Dank!
Sehr aufschlußreicher Bericht. Meine Uhren, in denen die Kaliber seit Jahrzehnten ohne Revision laufen, sind ausnahmslos japanische Massenprodukte von Seiko und Citizen. Ärgerlich ist, wenn die Revision eines 7750 Standardwerks bei Herstellern wie Sinn gerne mal mit über 500 EUR veranschlagt wird. Der edle Touch, den Seite einigen Jahren der Begriff Manufakturwerk einbringen soll ist in nahezu allen Fällen eine dehnbare Methode, selbst für Uhren mit aufgehübschtem Standardkaliber allein wegen des Markenimages groteske Preise aufzurufen (siehe Breitling).
Die sogenannten Standardkaliber von Eta sind, wenn man es genau betrachtet, aus Sicht der ganzen Marken die zur Swatch Group gehören ebenfalls Manufakturkaliber. Die Bezeichnung sagt am Ende nichts darüber aus, wie aufwendig die Produktion ist und ob das Kaliber besondere Funktionen hat.
Wirklich schön wäre es, wenn diese sogenannte “Stückkostendegression” auch preislich beim Käufer ankäme.
Die Breitling “Tiffany” Taucheruhr mit dem SW200 Kaliber für den UVP von 5150 Euro müsste dann für 4000 Euro weniger zu haben sein (ein bisschen Sarkasmus muss sein)
😁
Die beschriebenen Sachverhalte sind allerdings nicht neu, nur werden die Uhrenhersteller heute in meinen Augen einfach immer dreister.
Patek Phillip, Vacheron Constantin und Breguet haben als Basis für das 2872, das CH27-70, das 1141 oder das 533.2 schon damals das Lemania 2310 bzw. 2320 verwendet und nie behauptet, dass das verwendete Werk vollständig aus der eigenen Entwicklung stammt (es allerdings auch nie von sich aus propagiert (;-)).
Persönlich finde ich das gar nicht schlimm, man sollte es jedoch offen kommunizieren!
Den Vorschlag, dass man nur dann von einem Manufakturkaliber sprechen darf, wenn alle wesentlichen Teile des Uhrwerks aus eigener Fertigung stammen, kann ich übrigens nicht teilen, da sich automatisch die Frage stellt, was wesentliche Teile sind. Nach meiner Auffassung gibt es nämlich nur ein unwesentliches Bauteil in einem Uhrwerk: Den Hebel für den Sekundenstopp. Ihn kann man ohne Beeinträchtigung der zuverlässigen Funktion des Gesamtwerks einfach weglassen.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen guten Jahresstart.
Es geht, wie immer, ums Geld. Wenn man den Kunden folgenlos belügen oder zumindest für dumm verkaufen kann, lässt sich ein höherer Preis erzielen. Absolutes Negativbeispiel die von Dir bereits erwähnte Breitling SuperOcean mit dem gleichen Werk wie beispielsweise eine Marc & Sons Diver, einem Sellita SW200. Mit dem kleinen Unterschied, die Marc & Sons kostet weniger als ein Fünftel als die Breitling und sieht ungefähr 68 Mal besser aus.
Zufälligerweise passt Dein Artikel ganz genau zu einer Suche, die mich heute beschäftigt hat. Beim Stöbern bin ich auf die Tutima M2 Seven Seas in Titan gestoßen, eine relativ preisgünstige Uhr, die mir recht gut gefällt. Nur bei der Angabe des Werks, das in der Uhr seine Arbeit verrichtet, ist man sehr sparsam, Kaliber Tutima 330 ist die einzige Information. Keine Angaben zur Ganggenauigkeit, zur Schwingungszahl etc, da gibt man sich äußerst schmallippig. Also habe ich die Startpage angeschmissen und dann etwas später nachlesen können, daß es sich um ein ETA 2836-2 respektive Sellita SW 220-1 handelt. Warum kann man das nicht angeben? Oder hat hier, wie häufig behauptet wird, eine Weiterentwicklung des Basiswerks stattgefunden und die Bezeichnung mit eigenem Namen ist zumindest halbwegs korrekt? Das lässt sich leider nicht herausfinden und ich bleibe teilunwissend. Vielleicht weißt Du ja mehr, nahezu allwissender Mario?
Bei der Recherche ist mir übrigens aufgefallen, daß die Firma Sellita häufig falsch geschrieben ist, nämlich Selitta, was mich stark an die Kaffeefilter erinnert (Melitta). Also merken, Uhrwerke sind keine Filtertüten. Aber das nur am Rande.
Alles Gute und einen sanften Übergang in ein neues uhrenreiches Jahr.
Ausnahmslos gut geschriebener Artikel, dessen Inhalt ich vollumfänglich zustimme.
Transparenz wäre das Gebot der Stunde, aber nicht nur das…
Sehr interessanter und informativer Artikel. Vielleicht kannst Du, Mario, auch gelegentlich noch auf die Kailber von Alpina eingehen, Alpina gehörte ja zu Frederique Constant, Jetzt sind die gemeinsamen im Citizen/Miyota Konzern. Wie auch LJP, Alpina verwendet auch “Manufakturkaliber”. Alpina schreibt, das Flyback Chronograph Kaliber AL- 760 wurde selbst bei Alpina aus dem AL-710 entwickelt. Und das AL-710 wurde auch dort entwickelt und wird im Haus produziert. Ich würde vermuten, dass Teile für die Alpina Kaliber wie z.B. die synthetischen Rubine oder Federn aus dem Konzern bezogen werden. Aber wenn die Angaben von Alpina richtig sind, dann sind es “in House Kaliber” und man kann das doch auch als Manufakturwerke bezeichnen. Oder ist das eine Entwicklung von oder mit dem konzenangehörigen Kaliberhersteller La Joux-Perret, und dann nicht mehr In House, sondern “nur” konzernintern ?