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316L Edelstahl ist mit Abstand das am weitesten verbreitete Material für Gehäuse und Bänder von Uhren – egal, ob nun bei einer Zenith El Primero Chronomaster für viele Tausend Euro oder einer Invita Pro Diver Automatic für rund 100€. Kein Wunder: Das Material ist vergleichsweise einfach zu bearbeiten, günstig, korrosionsbeständig und recht hart. Nur wenige Uhrenhersteller tanzen aus der Reihe und setzen nicht auf 316L Edelstahl, sondern auf 904L Edelstahl – darunter die BALL Watch Co., der in Deutschland ansässige Hommagen-Experte Steinhart (seit Juni 2021) und Rolex: Erstmalig im Jahre 1985, im Rahmen der Überarbeitung der Rolex Sea-Dweller, setzte der Genfer Luxusuhrenhersteller auf die Legierung 904L (heute auch bekannt unter dem Namen Oystersteel). Doch was sind die handfesten Vorteile von 904L gegenüber 316L? Und ist Rolex wirklich der Pionier hinsichtlich 904L Edelstahl-Uhren?

Oyster-Gehäuse von Rolex in 904L Edelstahl

Rolex Oystersteel: 904L vs. 316L Edelstahl

Viele Uhrenfreunde nehmen an, dass 904L-Edelstahl das absolute Nonplusultra ist. 904 > 316… einfache Mathematik! 😉 Sogar höherwertigere Rolex-Fälschungen kommen mittlerweile (zumindest angeblich) mit Gehäusen und Bändern aus 904L Edelstahl, um Kaufwillige hoffentlich endgültig davon zu überzeugen, dass sich ein Replica doch sowieso kaum vom Original unterscheidet.

Es gibt allerdings eine Reihe von durchaus weit verbreiteten Irrglauben im Zusammenhang mit 904L Edelstahl – so denken beispielsweise viele Uhrenfreunde, dass 904L Edelstahl (auch bekannt als 1.4539) deutlich härter sei als 316L (1.4404) – dem ist aber nicht so: Die Härte beträgt bei beiden Legierungen in etwa 200 HV (Härte nach Vickers).

Auch hinsichtlich Kontaktallergien hat 904L keine echten Vorteile: Nickel ist die Hauptursache für Uhren-Allergien – und beim von Rolex eingesetzten 904L Stahl ist der Nickelanteil mit ca. 25% (gegenüber ca. 10-15% Nickelanteil bei 316L) sogar deutlich höher. Allerdings gibt der 904L Stahl nach meinen Recherchen aufgrund der speziellen Legierung weniger Nickel nach außen hin ab. Am Ende des Tages dürfte das für Personen, die Probleme mit Nickel haben, keinen großen Unterschied machen…

Bei einem Aspekt kann 904L Edelstahl aber durchaus gegenüber 316L punkten: Bei der Korrosionsbeständigkeit. 904L Edelstahl ist ein sogenannter superaustenitischen Stahl, der einen sehr niedrigen Kohlenstoffgehalt hat (daher auch das “L” für “low carbon”). Auch durch die besonders hohen Anteile Chrom, Nickel und Kupfer weist 904L Edelstahl eine deutlich höhere Beständigkeit gegen aggressive Umgebungsbedingungen auf, insbesondere eine Resistenz gegenüber Korrosion (Rost). Die Zugabe von Molybdän sorgt außerdem für eine geringere Anfälligkeit gegenüber lokaler Korrosion (Loch- und Spaltkorrosion). Man beachte allerdings, dass auch 316L Edelstahl, der typischerweise bei Uhren zum Einsatz kommt, per Definition austenistisch ist.

904L Edelstahl wird aufgrund des Vorteils der Korrosionsbeständigkeit insbesondere häufig im Schiffsbau und für Bauteile verwendet, die Ihren Einsatz im Meer- und Brackwasser finden. So kann 904L in Meerwasser bis 70°C und sogar in Schwefel- bzw. Phosphorsäure sowie in chloridhaltigen Medien eingesetzt werden. Weitere toughe Anwendungsgebiete finden sich in der Bauindustrie, in Rauchgasentschwefelungsanlagen, in der chemischen Industrie, in der pharmazeutischen Industrie und in der Raumfahrt.

Und spätestens jetzt sollte auch klar sein, dass es natürlich kein Zufall ist, dass Rolex 904L Edelstahl zuerst in der Sea-Dweller eingesetzt hat: Die Sea-Dweller „Single Red“ wurde Im Jahre 1967 als professionelle(re) Variante der Submariner eingeführt und erweiterte die Wasserdichtigkeit der Rolex-Kollektion auf 500 Meter. Noch im selben Jahr bekam die Sea-Dweller ein Upgrade auf 610 Meter („Double Red“). 1985 bekam das Modell außerdem 904L Edelstahl spendiert. Und was ist bei einer professionellen Taucheruhr, die damals in Ermangelung digitaler Tauchcomputer tatsächlich regelmäßig von professionellen Tauchern als Hilfsmittel bei Tauchgängen genutzt wurde, keine schlechte Idee? Na klar – eine hohe Korrosionsbeständigkeit gegenüber Meerwasser.

Doch warum ist Meerwasser eigentlich so aggressiv? Nun, Korrosionsprozesse verlaufen besonders rasant, wenn Wasser eine hohe Konzentration gelöster Salze enthält – also wie im Meerwasser. Die gelösten Stoffe – elektrisch geladene Ionen – erhöhen die Leitfähigkeit des Wassers enorm. Der Elektrolyt aus Wasser und Ionen erleichtert den Ladungsaustausch bei der Korrosion. Oder kurz: das Salz verbessert die Leitfähigkeit von Metallen und macht es damit reaktionsfreudiger.

Nun darf man aber natürlich kritisch einwenden, dass heutzutage die allerwenigsten Käufer einer Rolex-Taucheruhr diese mehrmals täglich mit ins Meer nehmen, um mit ihr auf Tauchstation zu gehen – Desk Diving ist da meistens schon das höchste der Gefühle. Die bessere Korrosionsbeständigkeit kann eine Rolex-Uhr mit 904L also in aller Regel gar nicht ausspielen, denn gegen normalen Schweiß, der sich am Arm bildet, ist auch 316L Edelstahl in aller Regel locker ausreichend (zum Vergleich: Meerwasser kommt auf einen Salzgehalt von rund 35 Gramm pro Liter, Schweiß auf nur 1 bis 4 g/l).

Es ist zwar einerseits verständlich, dass Rolex die Besonderheit von 904L-Edelstahl hervorhebt, um sich vom Wettbewerb abzugrenzen, andererseits empfinde ich (als ein waschechter Bürostuhlakrobat) nüchtern betrachtet die Vorteile von 904L als in der Summe wenig praxisrelevant. Dennoch setzen auch ein paar wenige weitere Hersteller auf 904L-Edelstahl…

Die Produktion von 904L Edelstahl / Oystersteel bei Rolex

Seit 2003 verwendet Rolex ausschließlich 904L-Edelstahl für sämtliche Stahlmodelle. Seit 2018, mit der Einführung der GMT-Master II, benutzt Rolex außerdem den Namen Oystersteel. Der Grund: Es klingt sexyer 😉 . Rolex setzt dabei auf eine hohe Fertigungstiefe: So wird nach einem ersten Guss die Legierung unter Vakuum erneut geschmolzen, um sie zu reinigen und Einschlüsse zu entfernen, welche die Korrosionsbeständigkeit beeinträchtigen und zu Fehlern beim Polieren führen könnten.
Im Labor unterzieht Rolex außerdem jede angelieferte Charge Edelstahl einer internen Qualitätskontrolle. Dies geschieht insbesondere unter Einsatz eines Rasterelektronenmikroskops, mit dem auch kleinste Struktur- und Oberflächenfehler erkannt werden können.

Rolex gibt zu Protokoll, dass 904L-Edelstahl deutlich schwieriger zu bearbeiten sei als 316L – die Genfer schreiben: “Die physikalischen Eigenschaften und die hohe Zähigkeit von Edelstahl 904L erforderten die Entwicklung spezifischer Anlagen und besonderer Arbeitstechniken, sei es für das Zuschneiden der Flachstangen, ihre Formung durch Stanzen oder die mechanische Bearbeitung der Komponenten. Durch wiederholte Wärmebehandlung kann das Material leichter geformt werden. Zum Stanzen von Edelstahl Oystersteel wurden eigens extrem harte Werkzeuge entwickelt – einige davon aus Wolframkarbid – und mit verschleißfesten Beschichtungen versehen.

Ähnlich, aber kompakter, formuliert es der Schweizer Uhrenhersteller BALL: “…für Extrembedingungen geeignet, benötigt aber in der Fertigung spezielle Maschinen und Bearbeitungsverfahren.”

Alles nur Marketinggewäsch? Jein: 904L-Edelstahl ist tatsächlich schwieriger zu bearbeiten, vor allem wegen der hohen Anteile an Chrom und Nickel. Alles in allem ist die Bearbeitung von 904L-Edelstahl nach meinen Recherchen aber keine Raketenwissenschaft und im Vergleich zu beispielsweise Titan vergleichsweise einfach.

Andere Hersteller mit 904L Edelstahl-Uhren: Steinhart, BALL, Omega

Omega experimentierte bereits Anfang der 1970er Jahre mit 904L “Uranus-Stahl” – also lange bevor Rolex auf die spezielle Legierung setzte. Die Inspiration kam von der französischen Tiefseetauchfirma COMEX, die diesen Stahl aufgrund der hohen Korrosionsbeständigkeit in Salzwasser in ihren Taucherglocken verwendete. Wir erinnern uns: Omega war mit der Ploprof eine ganze Weile offizieller COMEX-Partner – zumindest so lange bis Rolex mit einem Angebot um die Ecke bot, bei dem COMEX nicht nein sagen konnte. Omega hat den Einsatz von 904L Edelstahl anschließend nicht weiter verfolgt…

Im Juni 2021 hat auch die deutsche Uhrenmarke Steinhart ein erstes Modell mit 904L Edelstahl lanciert – die Ocean 39 premium 904, eine Mischung aus Rolex Explorer und Rolex Submariner. Steinhart ist bekannt dafür, sich mit Hommagen-Uhren nah am großen Vorbild Rolex zu bewegen, was regelmäßig für hitzige Diskussionen unter Uhrenfreunden sorgt. In der Hinsicht ist das neue 904L Edelstahl-Modell keine riesige Überraschung, wenngleich man natürlich kritisch einwenden darf, dass der Aufpreis mit Blick auf die homöopathischen Vorteile gegenüber den “normalen” 316L Modellen rein nüchtern betrachtet eigentlich nicht zu rechtfertigen ist (mit 790€ ist die Steinhart Ocean 39 premium 904 immerhin 200€ (bzw. 35%) teurer als beispielsweise die Steinhart Ocean One Double-Green Keramik Premium).

Steinhart Ocean 39 premium 904

Die ursprünglich im Jahre 1891 in den USA gegründete, heute in der Schweiz ansässige BALL Watch Co. ist ein echter Underdog und eher absoluten Uhren-Nerds bekannt. Eine Besonderheit von BALL ist der Schwerpunkt auf Tritium-Uhren (GTLS-Technologie). Darüber hinaus durchziehen Modelle mit 904L Edelstahl das Sortiment – so wie die BALL Roadmaster Icebreaker. Preispunkt: 1940€.

BALL Roadmaster Icebreaker

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Chris L., Münster
23 Tage zurück

Das ist ein – wer Chrononautix-Artikel kennt – gewohnt gut und angenehm flüssig geschriebener und sorgfältig recherchierter Beitrag. Einzig eine Erwähnung fehlt aus meiner Sicht bei dem Werkstoff 904 L, der gegenüber 316 L hellere Schimmer des Materials, der etwas an Aluminium erinnert. Besonders schön zus sehen bei Sonne am (oder besser im) Meer.

Darauf freue ich mich jedes jahr wieder – allerdings mit meiner Seiko aus Ever Brilliant Steel! ;o)

Danke für zahlreiche bereichernde Artikel!

Chris L.

Rebecca Träger
1 Jahr zurück

Endlich weiß ich was das “L” bedeutet. Der Aufsatz ist nicht zu toppen. Vielen Dank!

Götz
1 Jahr zurück

Vielen Dank für den interessanten Artikel und die Hintergrundinformationen! Es ist nicht hoch genug zu schätzen, wenn jemand Informationen teilt, an die man sonst nicht oder nur sehr schwer kommt. Ich habe Uhren aus beiden Materialien. 904L ist jeden Tag am Arm und praktisch ohne Kratzer. Die Uhr ist viele Jahre alt und bis auf die Schließe fast neu. 316L wird deutlich seltener getragen und weist deutlich mehr Kratzer auf 🤔? Marken hab ich mal weg gelassen, es geht ja um´s Material 😉

Chris
2 Jahre zurück

Bei Rolex oystersteel sind 2 Promille Platin enthalten. Deshalb der Glanz.

Tom
2 Jahre zurück

904 hat zwar eine geringe Nickellässigkeit und ist somit bei Gehäusen nicht spürbar allergener als 316, bei Armbändern sieht das aber durch den unvermeidlichen Abrieb ganz anders aus. Das berühmt-berüchtigte “rote Rolexarmband” kommt nicht von ungefähr….

Preisßkorn
2 Jahre zurück

Guter Beitrag! Hohe Fachkompetenz , die dem Laien, wie mir, weiter geholfen hat.
Stimmt es, daß sich der 904- er Stahl beim Polieren durch höheren Glanz vom 316 – er Stahl abhebt ?

Klaus R.
3 Jahre zurück

Für mich als relativen Laien und weder Chemiker, noch Materialwissenschaftler sind solche Artikel immer ein besonderes Highlight mit einem hohen Anteil an Fachinfo, die man sonst nirgendwo so kompremiert erhält. Ich lese jedes Wort sehr gern und mit höchster Aufmerksamkeit. Großartig. Weiter so, bitte.

Martin
3 Jahre zurück

Interessanter Artikel. Mich hätte noch interessiert, ob 316L und 904L exakt denselben Farbton aufweisen oder ob es da einen Unterschied gibt.

D. Hansen
3 Jahre zurück

Interessanter Artikel ! Danke dafür. Allerdings leuchtet mich die BALL Watch ja regelrecht an. Eine sehr schicke Uhr. Vielleicht was für Mario im Test ????