Neben Breitling Navitimer, Omega Speedmaster und Rolex Daytona gehรถrt der TAG Heuer Carrera Chronograph auch heute noch zu den bekanntesten und beliebtesten Automatik-Chronographen der Welt. Wรคhrend Omega die Mondlandung und Breitling die Luftfahrt als Aufhรคnger hat, ist der TAG Heuer Carrera Chronograph unmissverstรคndlich als Rennfahreruhr positioniert. Die Grรผnde dafรผr liegen in der langen und ergiebigen Geschichte des Schweizer Traditionsherstellers, zum Beispiel in der Zeitmessung bei Autorennen – leider kommt der historische Aspekt bei aktuellen Carrera-Chronographen meistens zu kurz.
In diesem Artikel gehe ich zunรคchst auf die Geschichte der TAG Heuer Carrera ein, um dann einen kritischen Blick auf die Gegenwart inklusive der Evolution der TAG Heuer-Automatik-Werke Calibre 16, Calibre 1887, Calibre Heuer 01 und Heuer 02 zu werfen. Denn: Die TAG Heuer Carrera hat heute viele sehr unterschiedliche, fast schon ambivalente Gesichter und Motoren…
INHALT
TAG Heuer Carrera Chrongraph: Von der Stoppuhr ans Handgelenk
Chronographen, Stoppuhren und Bestandteile von Instrumententafeln entwickelten sich schon frรผh zum Kerngeschรคft des 1860 in Saint-Imier gegrรผndeten Schweizer Uhrenherstellers. Unternehmensgrรผnder Edouard Heuer meldete beispielsweise schon im Jahre 1888 das erste Patent fรผr einen Stoppuhrmechanismus an. Im Jahre 1916 folgte ein Patent fรผr den ersten Hundertstelsekunden-Chronographen.
Die geschichtlichen Ursprรผnge der Carrera liegen also schon lange zurรผck und gehen auch auf das Jahr 1911 zurรผck als Heuer mit der patentierten Time of Trip den ersten Chronographen fรผr das Armaturenbrett von Flugzeugen und Automobilen auf den Markt brachte…
Auf der Grundlage dieses Bordchronographen und – nicht zu vergessen – diversen Stoppuhren-Modellen wurde der Weg fรผr Partnerschaften mit Einzelfahrern und Teams aus verschiedenen Rennsportdisziplinen geebnet.
TAG Heuer Carrera Chronograph: Initialzรผndung durch Jack Heuer
Der Fokus des Schweizer Uhrenherstellers auf Automobile und Rennsport war kein Zufall: Jack Heuer, Urenkel des Firmengrรผnders Edouard Heuer und fรผhrender Kopf hinter dem Traditionshersteller von 1962 bis 1982, galt als langjรคhriger Fan und Teilnehmer von Rennsportveranstaltungen aller Art.
Heuer war darรผber hinaus auch schon frรผh in der Geschichte des Unternehmens im Bereich der Zeitmessung bei Autorennen engagiert – hier ein Heuer-Zeitmessstand im Jahre 1927:
Im analogen Zeitalter war die Zeitmessung alles andere als einfach. Heuer-Mitarbeiter Jean Campiche sagte dazu: „Mit den neuesten technologischen Entwicklungen war es uns mรถglich die Zeiten mehrerer Fahrzeuge gleichzeitig zu erfassen. Das war ein schwieriger Job, da man eine Menge Knรถpfe (zugehรถrig zu den jeweiligen Fahrzeugen) in schneller Reihenfolge drรผcken musste – ich bekam den Spitznamen ‚Pianist‘, da sich meine Finger so schnell bewegten.“
Auf Basis des Heuer’schen Engagements im Rennsport kamen auch Freundschaften zustande: Jack Heuer pflegte beispielsweise die Freundschaft mit dem schnellen Schweden Ronnie Peterson, der im Jahre 1978 nach einem Unfall beim Formel 1 Grand Prix von Italien (Monza) verstarb. Sechs Jahre vor Ronnie Petersons Tod schenkte Jack Heuer ihm eine 18-karat-goldene Carrera (Ref. 1158) mit persรถnlicher Widmung…
Aber zurรผck ins Jahr 1963: Die Idee zum ersten Armbandchronographen kam Jack Heuer im Zusammenhang mit der Carrera Panamericana (Carrera = spanisch fรผr Wettrennen), einem der bekanntesten (und tรถdlichsten) Autorennen der Welt. Die Carrera Panamericana dauerte sechs Tage und fand auf Teilen der sogenannten Panamericana (oder auch Pan-American Highway) statt, der lรคngsten Straรe der Welt, die ihren historischen Startpunkt in Texas (an der Grenze zu Mexiko) hat und erst im argentinischen Buenos Aires endet. Die Carrera Panamericana fand – kurz nach dessen Fertigstellung – auf dem mexikanischen Straรenabschnitt der Panamericana statt. Mit dem mehrtรคgigen Etappenrennen, der Carrera Panamericana, sollte dieser 3436 km lange Straรenabschnitt eingeweiht werden. Allerdings wurde die Carrera Panamericana nach nur wenigen Jahren wieder eingestellt – das letzte Rennen fand 1954 statt. Der Grund: Zahlreiche Crashs und Todesfรคlle – insgesamt 27 Menschen kamen ums Leben (Fahrer und Zuschauer). Im Jahre 1988 wurde die Veranstaltung als Oldtimer-Rallye wiederbelebt.
Jack Heuer hรถrte das allererste mal von der Carrera aus dem Mund des Ferrari-Piloten Pedro Rodriguez beim 12-Stunden-Rennen von Sebring, bei dem der Uhrenhersteller offizieller Zeitnehmer war. Jack Heuer sagte dazu: „Allein der Klang des Namens wirkte elegant und dynamisch, war in allen Sprachen problemlos auszusprechen und voller Emotionen. Damals wurde mir klar, dass mein neuer Chronograph eine perfekte Hommage an diese Legende werden wรผrde.โ
Einige Jahr nach der letzten Carrera Panamericana, im Jahre 1963, stellte Jack Heuer dann seine neueste Kreation, die erste Heuer Carrera, der breiten รffentlichkeit auf der Messe in Basel vor. Leider kann man heutzutage mit Blick auf das extrem umfangreiche Carrera-Produktportfolio von TAG Heuer kaum noch nachvollziehen, welches denn nun eigentlich die allererste Heuer Carrera – quasi die „Ur-Carrera“ – war. Tatsรคchlich hat Heuer im Jahre 1963 mehrere Varianten der Carrera auf den Markt gebracht (unter der Referenz 2447). Hier zwei Varianten (Bicompax-Carrera Black und Carrera 45 sowie die Tricompax-Carrera 2447S ) aus dem Jahre 1963, die allesamt …
- das 36 mm groรe (bzw. fรผr heutige Verhรคltnisse winzige) Gehรคuse,
- ein Valjoux-Handaufzug-Chronographenwerk aus dem Hause ESA (heute ETA),
- das schlichte, sehr gut ablesbare Zifferblatt-Design (Hersteller: Singer) und
- einen Preis von unter 100 US-Dollar
… gemeinsam hatten.
Etwas spรคter brachte Heuer auch eine heute bei Sammlern extrem beliebte Panda-Variante (Ref. 2447 SN) raus:
Gut zu wissen: Jack Heuers erste Chronographen-Schรถpfung war nicht die Heuer Carrera, sondern die Heuer Autavia, mit der er sich im Jahre 1962 an Sportwagen-Fahrer und Flugzeug-Piloten richtete (daher auch die Wortschรถpfung aus โautomotiveโ und โaviationโ). Die ein Jahr spรคter in Basel vorgestellte Carrera wiederum hatte dann nur eine Zielgruppe: Rennwagenfahrer.
Heute kann jedes Smartphone die Zeit messen – damals war ein Chronograph wie die Heuer Carrera aufgrund der Zusatzfunktion bzw. Komplikation einer Stoppuhr am Handgelenk aber durchaus etwas besonders. Dasselbe gilt fรผr die sogenannte Tachymeter-Skala: Mit der Tachymeter-Skala (auch: Tachymetre-Skala oder Tachometer-Skala) lassen sich Einheiten pro Stunde (Units per Hour) messen, indem der zeitliche Abstand zwischen zwei Einheiten gemessen wird. Eine klassische Anwendung ist die Messung der Durchschnittsgeschwindigkeit auf einem definierten Streckenabschnitt. Das Besondere bei der Heuer Carrera war die innenliegende Tachymetre-Skala, die das klare Design des Chronographen unterstrich.
Mehr รผber die Funktionen eines Chronographen und die Tachymetre-Skala gibt’s hier.
Auf Handaufzug folgt Automatik: Heuer un das Chronomatic Calibre 11
Nach der Handaufzug-Carrera lieร Heuer einige Jahre spรคter eine Automatik-Variante folgen: Im Jahr 1969 kam das patentierte Carrera Chronomatic Calibre 11, der weltweit erste Automatik-Chronograph mit kaum erkennbarem Mikrorotor, auf den Markt. Um die Investition fรผr diese Entwicklung stemmen zu kรถnnen hat sich Heuer damals mit anderen Grรถรen der Uhrenbranche zusammengetan: Breitling, Buren Watch S.A. and Dubois-Dรฉpraz S.A. und spรคter auch Hamilton waren an der Entwicklung beteiligt. Mit dem neuen Automatik-Uhrwerk wurden drei Armbandchronographen ausgestattet: die Autavia, die Carrera und die neue Monaco.
Mit der Einfรผhrung des Caliber 11 und der steigenden Beliebtheit der Formel 1 (bei der Heuer fรผr damalige Verhรคltnisse extrem groรen Sponsoringaufwand betrieb) wandelte sich auch die Optik der Carrera: Grรถรer (39 mm statt 36 mm) und ein bisschen bunter lautete die Devise. Man beachte auch die linksseitige Position der Krone, was technisch bedingt war, da das Dubois-Dรฉpraz Chronographen-Modul nur gegenรผber von den Chronographendrรผckern implementiert werden konnte:
Apropos Formel 1: Unter den Top-Piloten, die im Verlauf des darauf folgenden Jahrzehnts eine Carrera am Handgelenk trugen, waren die Ferrari-Fahrer Jacky Ickx, Clay Regazzoni, Mario Andretti, Carlos Reutemann und Jody Scheckter. Alle Mitglieder des Ferrari-Rennstalls von 1970, mit dem Heuer einen Vertrag als offizieller Sponsor und Zeitnehmer unterzeichnet hatte, erhielten eine Carrera aus massivem Gold mit eingraviertem Namen und Blutgruppe. Der Schweizer Jo Siffert war รผbrigens der allererste Formel 1-Fahrer, der eine Partnerschaft mit einem Uhrenhersteller einging. Und das war – wie sollte es auch anders sein – Heuer.
Quarz-Krise besiegelt das (vorlรคufige) Ende der Heuer Carrera
Mit der Quarz-Krise (Anfang 70er bis Mitte 80er), d.h. der fast vollstรคndigen Verdrรคngung von mechanischen Uhrwerken durch den damals innovativen, batteriebetriebenen Quarz-Antrieb, verschwand auch die Heuer Carrera von der Bildflรคche. Jack Heuers Bemรผhungen die Carrera mit einer batteriebetriebenen Variante (Verรถffentlichung 1978) am Leben zu erhalten, scheiterten in Anbetracht der massiven Flut gรผnstiger Uhren aus Asien, sodass Jack Heuer 1983 zรคhneknirschend sein Unternehmen verรคuรern musste. Zunรคchst gingen die Anteile an Piaget und den Werkehersteller Nouvelle Lรฉmania – so entstand der Heuer Carrera 5100 Lemania Chronograph.
Nur kurze Zeit spรคter, im Jahre 1985, erstand die TAG-Gruppe (Techniques dโAvant-Garde) 52% der Anteile von Heuer – TAG Heuer war geboren. Ein neues Logo gab es oben drauf. Unter der neuen Leitung wurde allerdings die Carrera zunรคchst links liegen gelassen: Mit den Billig-Modellreihen Heuer 2000 und der Formula 1 hatte man zunรคchst andere Zielgruppen im Auge. Offenbar keine schlechte Entscheidung, um Heuer wieder auf finanziell stabile Beine zu stellen – die Billig-Strategie ging auf: Bis Mitte der 1990er erholte sich TAG Heuer von der Quarz-Krise, woraufhin die Unternehmensgruppe den Blick wieder mehr auf die geschichtlich spannende Carrera-Modellreihe geworfen hat. Dafรผr sorgte seit 1999 auch der neue Eigentรผmer: Die LVMH-Gruppe (Moรซt Hennessy Louis Vuitton S. A.)…
TAG Heuer Carrera Chronograph heute: Ist das noch Carrera-DNA?
Schaut man als Carrera-Interessierter heute auf der TAG Heuer-Seite vorbei staunt man nicht schlecht: Die Carrera-Modellreihe ist nahezu inflationรคr รผberschwemmt von allen denkbaren Varianten des historischen Chronographen: Diverse Limited Editions, skelettierte Varianten, Varianten mit Tourbillon, super-moderne Modelle wie die Red Bull Racing Carrera, Damenmodelle mit Perlmuttzifferblatt und Bling-Bling-Steinchen sowie eher klassisch angehauchte Modelle sind hier in einem groรen Topf verwurschtelt. Auch Dreizeiger-Modelle (logischerweise ohne Chronographenfunktion) finden sich in der Carrera-Kollektion wieder – was das mit der ursprรผnglichen Idee einer Carrera zu tun hat, darf man durchaus kritisch hinterfragen.
Insbesondere scheint TAG Heuer heute aber seinen Schwerpunkt auf technisch-moderne Varianten der Carrera zu legen – am liebsten mit Bezug zur Formel 1 bzw. anderen Rennsportveranstaltungen oder Luxus-Autoherstellern wie Aston Martin. Varianten, die an die klassische Carrera der 60er Jahre angelehnt sind, findet man leider kaum. TAG Heuer pflegt offenbar lieber das klassische Erbe der Heuer Monaco und der Heuer Autavia…
(Bilder – links: Carrera Ayrton Senna-Edition, rechts: Carrera Aston Martin-Edition)
Besonders skurril ist eine Carrera-Sonderedition, die mit der „klaren“ Carrera-Idee so gar nichts mehr am Hut hat: Ein quietschbunter Designunfall, der in Zusammenarbeit mit dem Graffiti-Kรผnstler Alec Monopoly entstand und bei der mir doch etwas die Fantasie fehlt, wer so etwas eigentlich kaufen soll…
Einerseits ist TAG Heuers Strategie nachvollziehbar: Die TAG Heuer Carrera ist – neben Omega Moonwatch, Rolex Daytona und Breitling Navitimer – auch heute einer der bekanntesten Chronographen รผberhaupt. Und anders als frรผher ist ein Chronograph bzw. eine mechanische Uhr heutzutage weniger nรผtzlicher Gegenstand als vielmehr ein (Luxus-)Schmuckstรผck.
TAG Heuer schickt daher alles unter der Carrera-Flagge ins Rennen, was einigermaรen zum Namen passt, damit Otto-Normal-Schreibtischtรคter wie meine Wenigkeit auch genug Auswahl bei der Suche nach einer mechanischen Uhr haben, mit der man sich zumindest ein kleines bisschen wie ein Formel 1-Held fรผhlen kann. Dabei hilft es sicherlich auch, dass ein bekannter Sportwagenbauer einen gleichnamigen Flitzer im Portfolio hat. Und: Welcher Junge hat nicht positive Erinnerungen an das gleichnamige Spielzeug, die Carrera-Autorennbahn? Oder kurz gesagt: Emotionen sind heutzutage im Zusammenhang mit mechanischen (Luxus-)Uhren einfach deutlich wichtiger als der funktionale Aspekt.
Auch andere Hersteller sind in dieser Hinsicht keineswegs zurรผckhaltender: Man denke zum Beispiel an Omega und den drรถlfmillionen Limited Editions und sonstigen Abwandlungen der Speedmaster Moonwatch. Allerdings wissen einigermaรen gut informierte Uhrenkenner schnell, welches Modell historisch betrachtet die spannendste ist – die klassische Omega Speedmaster Moonwatch mit Handaufzugwerk und Hesalitglas (Ref. 311.30.42.30.01.005).
Allerdings muss ich auch zugeben, dass unter den aktuellen Carrera-Modellen ein paar moderne Varianten sind, die ziemlich genial aussehen – so zum Beispiel die TAG Heuer Carrera Heuer 01, an der ich persรถnlich nicht vorbeigekommen bin… Aber das liegt natรผrlich alles im Auge des Betrachters – hier ein paar Schnappschรผsse von der TAG Heuer Carrera Calibre Heuer 01 (Ref. CAR201T.FC6406) ๐
Back to the roots: TAG Heuer Carrera 2020 – Rรผckkehr des Ur-Carrera-Designs
Das oben beschriebene Ur-Carrera-Design wurde zum Anlass des 160. Firmenjubilรคums im Jahre 2020 in einer limitierten Variante lanciert. 1860 Stรผck (in Anlehnung an das Grรผndungsjahr) wurden von der originalgetreuen Retro-Neuauflage der Carrera 2447S, die TAG Heuer Carrera 160 Years Silver Limited Edition mit der Referenz CBK221B.FC6479, produziert. Die Eckdaten: Das Manufakturkaliber Heuer 02 (hierzu gleich mehr), eher kleine 39 mm Durchmesser, gewรถlbtes und doppelt entspiegeltes Saphirglas, Wasserdichtigkeit 10 bar.
Im September 2020 wurden auรerdem neue (unlimitierte) Carrera-Modelle lanciert, die sich recht nah am Ur-Design der Carrera bewegen. Charakteristisch sind die schlanke Edelstahllรผnette und die innenliegende Sekunden-/Minuten-Einteilung. Der Durchmesser ist mit 42 mm vergleichsweise human. In den neuen, klassischen Carrera-Modelle tickt auรerdem das hauseigene Manufakturkaliber Heuer 02 (dazu gleich mehr). Preispunkt: 5050โฌ (die effektiven „Straรenpreise“ dรผrften sich bei knapp unter 4000โฌ einpendeln).
- Ref. CBN2010.BA0642 schwarz am Stahlband
- Ref. CBN2011.BA0642 blau am Stahlband
- Ref. CBN2012.FC6483 grau am Lederband
- Ref. CBN2013.FC6483 weiร/Rosรฉgold am Lederband
Automatic-Werke-Evolution der Carrera: Calibre 16, Calibre Heuer 01, Calibre 1887 und Manufakturkaliber Heuer 02
Wรคhrend TAG Heuer frรผher insbesondere das Calibre 16 in den Carrera-Chronographen verbaute (welches dem millionenfach verbauten ETA 7750 entspricht / Dreizeigermodelle kommen in der Regel mit dem Calibre 5, welches dem ETA 2824-2 entspricht), setzten die Schweizer ab 2010 insbesondere auf das Calibre 1887 sowie das kurz danach erschienene (auf dem Calibre 1887 basierende) Calibre Heuer 01…
Seiko-Kooperation: Calibre 1887 und Heuer 01
TAG Heuer bewirbt das Calibre 1887 und das Calibre Heuer 01 auch heute noch selbstbewusst mit „Manufaktur“. Auf der TAG Heuer-Seite heiรt es: „Das Calibre 1887 setzte als TAG Heuers erstes hauseigenes Uhrwerk neue Maรstรคbe und ist heute das zuverlรคssigste Kaliber auf dem Markt.“ Die erste Assoziation bei solchen Sรคtzen ist dabei natรผrlich, dass das Werk auch komplett selbst von TAG Heuer entwickelt wurde – dem ist allerdings nicht so.
Viele Uhrenfans sprachen von einer Mogelpackung, da das Werk zwar in der Schweiz produziert wird, die Konstruktion des Calibre 1887 und des Heuer 01 aber im wesentlichen auf dem Seiko 6S37 Chronographenwerk (auch bekannt unter der Bezeichnung Seiko TC78) basiert. Mit anderen Worten baut TAG Heuer das 6S37 auf Basis einer von Seiko gekauften Lizenz nach und benennt es einfach anders. TAG Heuer ist (neben einigen anderen Herstellern) bekannt fรผr eine eher intransparente Kommunikation, wenn es um die eigentliche Werksherkunft geht.
Die Idee zum Calibre 1887 bzw. Heuer 01 Automatikwerk entstand schon zur Jahrtausendwende, um Unabhรคngigkeit von der รผbermรคchtig erscheinenden Swatch-Gruppe mit ihrem allgegenwรคrtigen Chronographenwerk ETA 7750 zu schaffen.
Auf den ersten Blick erscheint die Kooperation von TAG Heuer mit Seiko allerdings widersprรผchlich: Ein Luxusuhrenhersteller verbaut Werke eines Herstellers, der oftmals auch abschรคtzig als „Kaufhausuhren-Marke“ gesehen wird? Wie passt das zusammen?
Uhrenkenner wissen aber, dass das absolut zusammenpasst: Seiko hat mehr als ein mal bewiesen, dass sie zuverlรคssige und moderne Werke konstruieren kรถnnen. Und nicht zuletzt mit der Grand Seiko zeigen die Japaner, dass sie im Bereich hochwertiger Uhren locker mit den Schweizern mithalten kรถnnen.
Das Besondere am 6S37 bzw. dem Kaliber Heuer 01 ist der Schaltrad-Mechanismus (Column Wheel), der fรผr die Chrono-Funktionen Start, Stop und Nullstellung zustรคndig ist. Ein Schaltrad-Kaliber ist aufwendiger in der Herstellung als gรคngige Chronographenkaliber mit sogenannter Kulissensteuerung, weshalb solche Werke heutzutage nur noch selten verbaut werden.
Die Vorteile des Schaltrad-Kalibers sind allerdings auch nicht allzu spektakulรคr: Neben der (zugegebenermaรen sehr genialen) Optik des Schaltrads ist der rein funktionale Vorteil, dass sich die Chronographendrรผcker leichter und gleichzeitig sehr knackig betรคtigen lassen. Beim Calibre Heuer 01 ist das Schaltrad sportlich-rot lackiert (beim Caliber 1887 ist es blau):
Auch die allgemeinen technischen Daten des Seiko 6S37 bzw. Heuer 01 sind state-of-the-art, darunter eine Gangreserve von 50 Stunden (zum Vergleich: ETA 7750 = 44 Stunden).
In der Summe ist es kein Wunder, dass das von TAG Heuer in Lizenz gebaute „High-End“-Werk Seiko 6S37 als technisch besser gilt als das ETA 7750, welches bereits seit dem Jahre 1973 (!) produziert wird.
Fairerweise muss man auch noch ergรคnzen, dass TAG Heuer das Heuer 01 komplett im eigenen Hause montiert und auch viele Teile selbst produziert: 270 von 320 Teilen werden in der Schweiz hergestellt – von TAG Heuer selbst, der TAG Heuer-Tochter Cortech (zum Beispiel die Platinen) sowie anderen spezialisierten Lieferanten wie Nivarox (Spiralenfedern).
Hier einige Eindrรผcke aus TAG Heuers moderner Produktion des Caliber 1887 (zum Vergrรถรern bitte klicken):
TAG Heuers Vorgehen, das Seiko 6S37 in Lizenz zu produzieren, ist in der Summe absolut keine Schande und im Nachhinein dรผrfte TAG Heuer diese Investition sicherlich nicht bereuen: Nick Hayek, Chef der Swatch-Gruppe (zu der auch ETA gehรถrt), rasselte erst kรผrzlich wieder mit dem Sรคbel und kรผndigte an keine ETA-Werke mehr an die groรen Konkurrenten liefern zu wollen – da ist etwas Unabhรคngigkeit von Swatch sicherlich hilfreich.
TAG Heuer belรคsst es allerdings nicht bei der Seiko-Kooperation und schickt auch noch ein „echtes“ Manufakturkaliber ins Rennen…
Brandneuer Motor: Das Manufaktur-Automatikwerk Calibre Heuer 02
Das Automatikwerk Calibre Heuer 02 ist tatsรคchlich eine komplette Neuentwicklung von TAG Heuer. Angestoรen wurde das Projekt im Jahre 2011 durch den damaligen Markenchef Babin. Das Projekt verzรถgerte sich allerdings aufgrund von „Kinderkrankheiten“ und Anforderungen an die Bauhรถhe, deren Einhaltung sich zunรคchst schwierig gestalteten.
Das schicke Heuer 02 Manufakturwerk debรผtierte in der klassischen Neuauflage der TAG Heuer Autavia im Jahre 2017 – man beachte die sogenannte Tricompax-Konstruktion, d.h. die drei Totalisatoren sind nicht wie beim Calibre Heuer 01 linksseitig, sondern mittig/unten angeordnet, wodurch das TAG Heuer-Logo zentral sitzen darf…
Aber auch in aktuellen Carrera-Modellen kommt das Heuer 02 mittlerweile natรผrlich zum Einsatz – darunter auch ein skelettierter Chronograph mit GMT-Funktion:
โAusfallquoten von weniger als drei Prozent sprechen fรผr die Qualitรคt dieses Uhrwerksโ, verkรผndet Ex-TAG Heuer-Chef Biver stolz nach der Einfรผhrung. Auch auf dem Papier macht das Manufakturkaliber Heuer 02 eine Menge her:
- satte 80 Stunden Gangreserve
- eine vergleichsweise flache Bauhรถhe von 6,9 mm, wodurch auch die Uhren selbst flacher konstruiert werden kรถnnen (zum Vergleich: das ETA 7750 ist 7,90 mm hoch)
- Schaltradmechanismus (wie das Calibre Heuer 01, siehe oben)
- COSC-/Chronometer-Zertifizierung / Ganggenauigkeit von 0 bis +8 Sekunden pro Tag
- Servicefreundliche Konstruktion – in der TAG Heuer Pressemitteilung heiรt es: „Das Werk wurde in einem industrialisierten Produktionskontext und mit dem Ziel entwickelt, die Montage und den Kundendienst zu vereinfachen. „
Abschlieรend noch einige Eindrรผcke aus der Produktion des mit 168 Bauteilen effizient und schlank konstruierten Manufakturkalibers Heuer 02 (Schweizer Produktionsstandorte: Chevenez und La Chaux-de-Fonds) – zum Vergleich: Das ETA Valjoux 7750 besteht aus 250 Bauteilen.
Noch nicht genug? Mehr รผber sportliche Uhrenmarken wie TAG Heuer, Tissot, Certina & Co. gibt’s hier:
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Hohe Qualitรคt bin ich ja von den Beitrรคgen gewohnt, aber dieser hier sticht heraus. Vielen Dank dafรผr, fรผr die Recherche, den Report und nicht zuletzt fรผr die Bilder und Deine eigene Bewertung.
Danke Martin, das geht runter wie รl! ๐
Gratulation. Ein sehr guter, lehrreicher Bericht. Wieder mal was dazugelernt. Von der „Zusammenarbeit“ Seiko / TAG Heuer hatte ich bis dato keine Ahnung. Von der Qualitรคt mancher Seiko-Werke hatte ich aber schon gehรถrt.
Du nutzt im Text irgendwo recht weit oben die Begriffe : inflationรคr รผberschwemmt und verwurschtelt – den Eindruck habe ich auch. Wenn man auf die Internetseite von TAG-Heuer geht, weiร man nach kรผrzester Zeit gar nicht mehr, warum man da war und geht zu einer anderen Manufaktur. Du scheinst aber aus dem Angebot ja was fรผr Dich gefunden zu haben, wenn ich das richtig verstanden habe. Es verbietet sich nun aber zu sagen, ob mir dieser skelettierte Chronograph gefรคllt oder nicht. Also nochmals : Gratulation – die Farbe zumindest finde ich aber schon geil ๐
Da ich wohl generell mit den Tagesanzeigen meine Probleme habe – zu klein, nicht ordentlich ablesbar, zu dunkle etc etc – auch hier mein Hinweis. Das skelettierte Datumsrad ( ist sicherlich sehr aufwendig herzustellen ) mit den Halterungen oben und unten fรผr die Ziffern ist fรผr mich zu verwirrend im Datumsfenster. Durch eine andere Konstruktion kรถnnten hier ohne Probleme bis mind. 10% grรถรere Ziffern vorgesehen werden. Wie hier seitens der Hersteller manipuliert wird, sieht man an der Bilderserie, die Du eingestellt hast und den 2 Werksbildern weiter unten, wo die 8 einem so richtig ins Auge sticht.
wieder einmal ein gelungener Bericht. Danke dafรผr. Tag Heuer wird irgendwann mal eine meiner Uhren sein
Danke Gรผnter, wieder fit? ๐
Hallo Mario –
abermals und sicher nicht als Letztes mein Kompliment zu diesen Deinen Ausfรผhrungen. TAGHeuer hat mich schon lange interessiert, wenn ich selbst auch eher hingezogen bin zu dem, was Ihr Fachleute unter Dress-Uhren versteht. (รbrigens: Die DaVinci hat ihren ersten „Wieder“-Ausgang hinter sich). Von allen so unglaublich technisch daher kommenden Zeit- und sonst noch Messern erschien mir aber die Carrera immer als besonders schรถn.
Grรผรe aus dem Rheinland
vom Claus
Danke dir Claus! Und es freut mich natรผrlich, dass die DaVinci endlich mal wieder frische Luft bekommt 8)