Wรคhrend in mechanischen TAG Heuer-Chronographen fast nur noch das hauseigene Manufakturkaliber Heuer 02 tickt, findet man in den Dreizeigermodellen des Schweizer Luxusuhrenherstellers vorrangig Stangenware aus dem Hause Sellita bzw. ETA – und zwar mehr oder weniger “getarnt”, zum Beispiel unter der Bezeichnung Calibre 5 in den Modellen Aquaracer, Autavia oder den Dreizeiger-Carreras. Einerseits sorgte der Einsatz von Standardkalibern dafรผr, dass Dreizeiger-Modelle von TAG Heuer noch einigermaรen erschwinglich sind. Andererseits wird Stangenware nicht so recht dem TAG Heuer’schen Image gerecht.
Und das weiร auch TAG Heuer, weshalb der zum LVMH-Konzern gehรถrende Hersteller einen Kurswechsel auf der Watches & Wonders 2022 einlรคutete: In der neuen TAG Heuer Aquaracer Superdiver tickt erstmals das neue Kaliber TH30-00 mit deutlich aufgebohrten 70 Stunden Gangreserve (zum Vergleich: Standardkaliber SW200 von Sellita = 38 Stunden), einer stabilen Unruhbrรผcke, Chronometer-Zertifikat von der COSC und deutlich erweitertem Wartungsintervall von 10 Jahren.
Moment mal – die Zahlen kommen einem als Uhrenfreund doch irgendwie bekannt vor, oder? Und tatsรคchlich: TAG Heuer kooperiert erstmalig mit der Kenissi SA, hinter der prominente Namen stecken: Rolex bzw. Tudor und Chanel.
Tudor hat die Uhrwerkeproduktion vor ein paar Jahren in die Kenissi SA ausgegliedert und Chanel als Anteileigner mit ins Boot geholt, um ordentlich PS auf die Straรe zu bringen und einen Gegenpol zu den mรคchtigen Marktakteuren Sellita und Swatch Group/ETA aufzubauen. Immerhin 20 Millionen Franken fรผr 20% der Anteile hat sich Chanel die Beteiligung kosten lassen. Damit wurde unter anderem eine brandneue, 150 Meter lange Fabrik in Le Locle finanziert. Hรคuptling von Kenissi ist ein bekannter Name: Jean-Paul Girardin, ehemaliger Vice President von Breitling. Der Kundenkreis von Kenissi ist mittlerweile ziemlich prominent besetzt: Neben (logisch) Tudor und Chanel setzen Fortis (siehe Fortis Flieger), NORQAIN und Breitling (Kaliber B20) auf Kenissi-Kaliber – und nun eben auch TAG Heuer.
Nun kann man natรผrlich schon kritisch hinterfragen, warum es ein Schwergewicht wie TAG Heuer (Teil des LVMH-Konzerns; in der Top 10 der Schweizer Uhrenmarken mit 682 CHF Umsatz) es nicht schafft, ein “einfaches” Dreizeiger-Manufakturkaliber im eigenen Hause zu entwickeln. Schlieรlich klappte es ja auch bei den Chronographenkalibern mit einer Eigenentwicklung in Form des Kalibers Heuer 02.
Offenbar hat TAG Heuer mit Kooperationen aber gute Erfahrungen gemacht: Bevor TAG Heuer das Heuer 02 in seinen Chronographen einsetzte, setzten die Schweizer auf das Heuer 01 – das wurde zwar in der Schweiz produziert, die Konstruktion basiert aber im wesentlichen auf dem japanischen Seiko 6S37 Chronographenwerk (auch bekannt unter der Bezeichnung Seiko TC78). Mit anderen Worten baut TAG Heuer das 6S37 auf Basis einer erworbenen Lizenz nach und benennt es einfach anders. Ich selbst habe gute Langzeiterfahrungen mit dem Heuer 01 gemacht – wer wรคre ich also, diese Strategie zu verdammen?
รbrigens setzt TAG Heuer auch bei der 2022 lancierten Solar-Aquaracer auf eine Kooperation: der TAG Heuer Aquaracer Professional 200 Solargraph mit Kaliber TH50-00 basiert ebenfalls auf japanischer Technologie: Das Solar-Modul wird von La Joux-Perret, einem Schweizer Werkespezialisten im Besitz der japanischen Firma Citizen, hergestellt – auf Grundlage der bekannten โEco Driveโ-Solartechnologie.
Eine Rolle hat vielleicht auch das Isograph-Projekt gespielt: Im 2018 gegrรผndeten TAG Heuer Research Institute wurden diverse Forschungsprojekte vorangetrieben – eine grundsรคtzlich spannende Entwicklung war beispielsweise die Spiralfeder aus Carbon-Verbundwerkstoff. Der Knackpunkt: Wie in einem Interview aber bekannt wurde, gab es Probleme in der Serienproduktion. Daher erfuhr die TAG Heuer Autavia Dreizeigervariante Anfang 2020 einen Relaunch โ allerdings ohne Carbon-Spiralfeder. Seitdem: Funkstille. Das Projekt scheint (vorerst?) gescheitert, hat aber sicher das eine oder andere Milliรถnchen verschlungen, das nun an anderer Stelle (zum Beispiel fรผr die Entwicklung eines eigenen Dreizeigerkalibers) fehlt.
Aber zurรผck zur Kooperation von TAG Heuer und Kenissi: Diverse Magazine argumentieren gerne, dass es doch total super ist, dass TAG Heuer nicht das Rad neu erfinden will, sondern durch die Kooperation mit Kenissi auf Bewรคhrtes setzt – so spare sich TAG Heuer schlieรlich die hohen Investitionen, was auch dem Kunden zu Gute kommt, der diese Investitionen indirekt mittragen wรผrde, wenn er eine Uhr kauft.
Ja! Das sehe ich grundsรคtzlich absolut genauso. Allerdings merkt man faktisch davon leider nix: das Kenissi-Kooperations-Einstandsmodell TAG Heuer Aquaracer Professional 1000 Superdiver WBP5A8A.BF0619 mit dem TH30-00 ist mit 6300โฌ alles andere als ein Schnapper – Titangehรคuse und 1000 Meter Wasserdichtigkeit (die ohnehin fast kein Mensch braucht) hin oder her. Zum Vergleich: Die Tudor Pelagos, die ebenfalls das Kenissi-Kaliber mit 70 Stunden Gangreserve sowie Titan-Gehรคuse/-Band an Bord hat, ist fast 2000โฌ gรผnstiger.
Mit Blick auf den selbstbewussten Preis hilft es meiner Meinung nach auch wenig, dass TAG Heuer betont, dass (wie sollte es auch anders sein) das TH30-00 exklusiv von Kenissi fรผr TAG Heuer hergestellt wird. Denn man kann getrost davon ausgehen, dass die Grundkonstruktion des TH30-00 in weiten Teilen der Tudor-Kaliberreihe MT5000 entspricht (z.B. Kaliber MT5612).
Im offiziellen TAG Heuer-Newsletter heiรt es: “With a new manufacture movement that is COSC-certified and produced exclusively for TAG Heuer by Kenissi Manufacture, it is a certified chronometer, as indicated on the watch dial. This new movement project represents an important milestone for TAG Heuer in term of reliability and quality.”
Kurzum ist TAG Heuers Strategiewechsel, bei den Dreizeigerkalibern mit Kenissi zusammenzuarbeiten, nachvollziehbar und grundsรคtzlich sinnvoll – die Aquaracer-Modellreihe wird deutlich aufgewertet. Aus Endkundensicht kann man allerdings nur instรคndig hoffen, dass TAG Heuer die Kooperation bzw. die Strahlkraft des Kooperationspartners Rolex/Tudor nicht รผber die Maรen strapaziert bzw. als Hebel (aus)nutzt, um unrealistisch hohe Preise aufzurufen…
Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, freue ich mich รผber ein Like bei Facebook, Instagram, YouTube oder
Auch รผber WhatsApp kannst du immer auf dem neuesten Stand bleiben – jetzt abonnieren:
Darรผber hinaus freue ich mich รผber Kommentare immer sehr (Kommentare werden in der Regel innerhalb kurzer Zeit geprรผft und freigeschaltet). Vielen Dank!
Ein Kommentar, so recht nach meinem Sinn. Sehr informativ (wie eigentlich immer) und auch recht kritisch. TAG Heuer Uhren, in meinem Fall die Aquaracer Professional 300, speziell in Blau, sind schon recht interessant, aber in Hinblick auf die von Mario bereits erwรคhnte Motorisierung (Eta oder Sellita Standardwerke mit eigener Verbrรคmung, Calibre 5, da lachen ja die Hรผhner…) maรlos รผberteuert.
Was mich so sehr stรถrt an HAG Teuer, ist dieses kรผnstliche Hochjazzen, ganz einfach und normal, wie bei wirklich guten Uhren, gibt es da nicht. Die Stangenware heiรt “Calibre”, ein einfaches Kaliber ist zu profan. Und die Uhren sind mindesten “Professional”, drunter tun sie es nicht, ebenso bei “Formula 1”, dabei erinnern diese Teile eher an DTM. Nach auรen auf dicke Hose machen und drinnen ist nur Fix&Foxi. Aber die dicken Preisschilder dranhรคngen, im Falle der Aquaracer schlappe 3100 Euro. Dafรผr gibt es Eta- oder Sellita-bestรผckte Gutuhren fรผr deutlich weniger Geld (z.B. Davosa) oder sogar ein Chronometer mit eigenem Kaliber (Titoni Seascoper 600, sieht auch besser aus).
Als ich noch im wunderbar-naiven Zustand des รberhaupt-nichts-wissens war, fand ich TAG Heuer unheimlich schick. Jetzt, wo ich ein klitzekleines Fitzelchen mehr weiร, finde ich diesen Geschmack eher schal. Aber jeder so, wie er klein Geld hat. Fuck Teuer (oder so)!