Mit Bambino, Mako & Co. hat der japanische Traditionshersteller Orient einige unter Uhrenfreunden extrem beliebte Modelle im Sortiment, die gerne und häufig als der perfekte Einstieg in die Welt der mechanischen Uhren empfohlen werden. Zum 75-jährigen Geburtstag legt Orient ein neues, erschwingliches Automatik-Modell innerhalb der Contemporary-Reihe nach: Die Orient Stretto. Kann die Stretto an den Erfolg von Bambino & Co. anknüpfen?

Eckdaten Orient Stretto RA-AC0R02L:
- Hauseigenes Orient-Kaliber F6722, Automatikaufzug, 21.600 bph, 22 Steine, Handaufzugsmöglichkeit über die Krone, 40 Stunden Gangreserve
- Saphirglas
- Gehäuse aus 316L Edelstahl (Bicolor-Varianten erhältlich)
- Horn-zu-Horn 45.5 mm
- Durchmesser 38.5 mm
- Höhe 11.2 mm
- Faltschließe, Bandanstoß 20 mm
- Wasserdichtigkeit 5 bar / 50 m
- Listenpreis: ab 364€, direkt über orientwatch.de oder verschiedene Fachhändler

Orient Stretto: Geschichtlicher Abriss
Im Jubiläumsjahr darf natürlich ein kurzer Abriss der Geschichte nicht fehlen, denn die Orient Watch Co. ist schon ein echtes U(h)rgestein: Gegründet wurde sie 1950 mitten in Tokio. Eigentlich begann die Geschichte von Orient sogar schon viel früher: Gründerkopf Shogoro Yoshida legte 1901 mit einem Großhandel und einer kleinen Werkstatt für Taschenuhren-Reparaturen los. In seiner kleinen Fabrik namens Toyo Tokei Manufacturing (Toyo heißt im Japanischen so viel wie „Orient“ oder „Ferner Osten“) wurden ab 1920 dann noch Tischuhren und Messgeräte produziert. Das Unternehmen begann ferner anno 1934 mit der Herstellung von Armbanduhren und stellte 1936 die vierstöckige Fabrik in Hino fertig. Während des Zweiten Weltkrieges musste Toyo Tokei unter anderem für die japanische Luftwaffe produzieren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab’s allerdings eine Zwangspause, denn die schwache Wirtschaft hat die Fabrik lahmgelegt. Ein paar Jahre später schlossen sich die Mitarbeiter der Fabrik in Hino aber zusammen und starteten ihre Geschäftstätigkeit als Tama Keiki Co., die im April 1951 ihren Namen in Orient Watch Co. änderte und mit der Produktion von Armbanduhren, Weckern und kleinen Lagern begann.
Nachdem Orient eigene, moderne Kaliberkonstruktionen auf den Weg brachte, begann das Unternehmen verstärkt zu exportieren – nach Taiwan, in die USA, nach Kanada, Iran, Brasilien und in andere Länder. Spannend: Bis heute ist Orients Auslandsgeschäft größer als das im heimischen Markt Japan.
Das Unternehmen brachte in den folgenden Jahrzehnten viele erfolgreiche Uhren heraus, darunter 1967 die Fineness Ultra Matic, die mit 3,9 mm flachste Automatikuhr mit Tag-/Datumsanzeige. Mit dem Aufkommen der Quarztechnologie sprang Orient auch auf diesen Zug auf – heute liegt der Schwerpunkt aber klar auf mechanische Uhren.

Spannend sind auch diese beiden Anzeigen, die zeigen, dass Orient mit typisch deutschen „Kulturgütern“ um die Gunst der deutschen Kunden gekämpft hat – mehr: Zeitreise: Uhren-Werbung vom 19. Jahrhundert bis heute.


Heute hat Orient einige Hundert Mitarbeiter – klein, aber fein. Seit 2017 gehört Orient zu 100 % zum Seiko-Konzern, genauer gesagt zu Seiko Epson. Schon seit Mitte der 80er knüpften Orient und Epson enge Beziehungen. Die beiden Unternehmen begannen, ihre Ressourcen zu bündeln. Eine neue Phase in der Entwicklung von Orient begann, denn diese Annäherung führte 2009 zur Übernahme von Orient Watches durch Epson. Orient Watches wurde zu einer Tochtergesellschaft von Epson, bevor sie 2017 vollständig in die Muttergesellschaft Seiko Epson Corporation eingegliedert wurde.
Innerhalb des großen Seiko-Kosmos ist Orient aber eher der kleine Bruder – zum Vergleich: Seiko hat über 10.000 Mitarbeiter. Aber auch, wenn (oder auch genau weil) Orient kein Riese ist, lieben viele Uhrenfans die Marke für ihre fair bepreisten mechanischen Modelle mit klassischem Look und einem Schuss Eigenständigkeit.
Orient Stretto im Test
Kurz ein paar Worte zur Namensherkunft: In der Musik bezeichnet Stretto (ital. ‚eng‘, ‚gedrängt‘) eine Stelle, wo Einsätze dichter aufeinander folgen. Das klingt dichter, spannender und drängender – ein bisschen wie ein Gespräch, bei dem alle vor Aufregung durcheinander reden.
Das Zifferblatt der Orient Stretto ist vom Aufbau her klassisch-schlichter Natur, zeichnet sich aber durch plastische und interessante Details aus: Am äußeren Rand des Zifferblatts beispielsweise verläuft ein Ring, der auf beiden Seiten von hochglanzpolierten Metallakzenten eingefasst ist, die perfekt mit dem metallisch umrahmten Datumsfenster abschließen. Die Stundenindexe sind appliziert und zeigen auf Nahaufnahmen feine Rillen sowie einen tiefen zentralen Ausschnitt. In Ergänzung zu den Stundenindexen finden wir ordentlich nachleuchtende Leuchtpunkte.
Ein schönes, Orient-typisches Detail ist auch das metallische, plastische Bildlogo mit zwei Löwen – der Löwe auf der linken Seite symbolisiert das Unternehmen, während der zweite Löwe die Händler und Partner symbolisiert. Die Krone über dem Schild steht für die Kunden.





Auf eine Orient-typische Gangreserveanzeige verzichtet die Stretto allerdings – hier bin ich etwas zwiegespalten: Mit der Gangreserveanzeige hätte Orient die Sportlichkeit des Modells noch stärker unterstreichen und die Optik stärker von der Bambino differenzieren können. Ich verstehe aber auch die Designentscheidung, dass die Stretto „clean“ bleiben sollte.
Die Farbvarianten sind klassisch: Weiß mit goldfarbenen Akzenten im Sinne einer Bicolor-Uhr (etwas „dressiger“), Navyblau als Allrounder (wie hier gezeigt) und Braun mit roségold. Etwas seltsam ist, dass es keine klassisch-schwarze Variante gibt – was nicht ist, kann aber ja noch werden.

Die Orient Stretto fügt sich in den Trend zu kleineren Gehäusen ein: Das Modell misst 38,5 mm im Durchmesser – angenehm tragbar für fast alle Herren-Handgelenke und sicherlich auch das eine oder andere Damen-Handgelenk.
Die Höhe der Stretto ist sogar etwas geringer als die optisch nicht unähnliche, aber dressigere Bambino (11,1 mm vs. 12,5 mm) – allerdings nur auf dem Papier, denn die Bambino hat ein stark hochgewölbtes (Mineral-)Glas, während die Stretto ein flaches (Saphir-)Glas mitbringt. Im Profil wirkt die Stretto deutlich sportlicher als die Bambino (zum Vergleich siehe: Orient Triton und Orient Bambino – der Japan-Underdog im Test).
Das Horn-zu-Horn-Maß der Stretto liegt leicht über der Bambino (44 mm vs. 45,5 mm). Die Proportionen der Stretto sind alles in allem schön ausgewogen, das Modell wirkt trotz moderater 38,5 mm aber definitiv relativ präsent am Handgelenk, was sicherlich auch daran liegt, dass das Zifferblatt viel Platz beansprucht.
Die massiven, verstifteten Glieder des Stahlbandes machen einen haptisch ordentlich aufeinander abgestimmten Eindruck. Die Faltschließe wirkt allerdings etwas aus der Zeit gefallen und kommt mit einfachen Bohrungen an der Seite für eine (einstufige) Feinjustierung. Dafür ist sie aber immerhin recht flach, was gut zur Stretto passt und naturgemäß beim Arbeiten mit Maus und Tastatur angenehmer ist. Nicht zeitgemäß ist aber, dass die Stahlband-Elemente, die an das Gehäuse anschließen, nicht massiv bzw. hohl sind.

Auffällig bei der Gehäuseverarbeitung sind die richtig schick nach innen geschwungenen, teilweise polierten Hörner. Auch die Politur der Lünette ist mehr als gelungen. Die Wasserdichtigkeit ist mit 5 bar bzw. 50 Meter (zum Duschen geeignet) niedriger als ich erwartet hätte – dazu gleich mehr im Fazit.
Auf dem Gehäuseboden finden wir übrigens auch transparent den Schriftzug „Made in Thailand“ – die thailändische Orient-Fabrik wurde vor ein paar Jahren in Betrieb genommen und erstreckt sich über eine Fläche von 48.804 Quadratmetern und arbeitet laut Orient nach denselben Qualitätsstandards wie im japanischen Hauptsitz. Die Produktion der Fabrik umfasst alle Schritte, von der Montage der Automatikwerke bis zum letzten Schliff.
Doch was steckt hinter dem Schritt der Japaner auf „Made in Thailand“ zu setzen?



Exkurs: Gründe für „Made in Thailand“
Nun, Thailand liegt im Zentrum Südostasiens und ermöglicht sowohl den Zugang zu den großen Binnenmärkten der ASEAN-Region (siehe ASEAN-Freihandelszone (AFTA)) als auch den Export in andere wichtige Wirtschaftsräume durch Freihandelsabkommen (Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), z.B. Australien, Südkorea).
Ein weiterer Vorteil ist die gut ausgebaute industrielle Infrastruktur: Thailand verfügt über etablierte Produktionscluster, insbesondere in der Automobil- und Elektronikindustrie, sowie über zuverlässige Zuliefer- und Logistiknetzwerke. Die Regierung unterstützt ausländische Investitionen zudem aktiv durch Steuervergünstigungen, Sonderwirtschaftszonen und andere Anreize.
Nicht zuletzt spielt die Risikostreuung sicherlich eine Rolle: Viele japanische Unternehmen verfolgen eine „China Plus One“-Strategie, um ihre Abhängigkeiten zu reduzieren – das ist sicherlich vor allem aufgrund der Zollstreitigkeiten zwischen den USA und China ein zunehmend wichtiger Aspekt, wenngleich auch die ASEAN-Staaten zu den Ländern gehören, die stark von den US-Zöllen betroffen sind. Dennoch: Eine Fabrik in Thailand ermöglicht es, Produktionskapazitäten zu diversifizieren und Lieferketten robuster aufzustellen. Sicher kein Zufall: Sony hat sich in Sachen Kameras schon 2022/2023 weitgehend aus China zurückgezogen und nach Thailand verlagert.
In Südostasien wächst darüber hinaus die Mittelschicht rasant. Ein Werk in Thailand bedeutet kürzere Lieferketten und schnellere Anpassung an die regionale Nachfrage.
Insgesamt verbindet Thailand günstige Produktionsbedingungen, gut ausgebildete Fachkräfte, Marktnähe und strategische Sicherheit – Faktoren, die Thailand für japanische Unternehmen wie eben Orient attraktiv machen.

Orient Stretto: Werk / Technik – das F6722
Orient brachte schon 1971 ein selbst hergestelltes Automatikwerk, das Kaliber 46, heraus – die Basiskonstruktion, die Orient über Jahrzehnte verwendet und sukzessive verbessert hat, zum Beispiel mit einer charakteristischen Gangreserveanzeige, die sowas wie das Erkennungsmerkmal von Orient geworden ist (schaut euch mal die Orient Triton an!).
Anno 2012 begann Orient mit der Arbeit an einer neuen Kalibergeneration, der 46-F6 (kurz „F6“). Wie der Name schon andeutet, steckte (und steckt) noch immer viel vom 46-Erbe im neuen Kaliber. Das F6, das 2014 schließlich in Produktion ging, nutzt dasselbe Federhaus, Kleinbodenrad, Ankerrad, Anker und Unruhrad wie das 46. Die Orient-Ingenieure entwickelten jedoch eine neue modulare „Hülle“ aus Platinen und Brücken, die den unterschiedlichen Anforderungen verschiedener Komplikationen ohne Anpassungen gerecht wurde, was zu einer wirtschaftlicheren Herstellung führte.

In der Orient Stretto tickt ganz konkret das Automatikaliber F6722, das heute innerhalb der Orient-Kollektion stark verbreitet ist und mit Diashock-Stoßsicherung, Sekundenstopp und 40 Stunden Gangreserve kommt, die durch 30-maliges Aufziehen über die Krone (oder natürlich Tragen) erreicht werden. Das Kaliber ähnelt im Aufbau stark dem F6922 der Mako II/III („Mako 42“) – nur eben mit dem Unterschied, dass die Wochentagsscheibe entfernt wurde. Das ist konsequent und nachvollziehbar mit Blick auf das aufgeräumte „Gesicht“ der Stretto.
Wie alle Orient-Kaliber ist auch das F6722 ein Inhouse-Kaliber – und diese Tatsache hat definitiv ihren Charme, denn mechanische Uhren im Preissegment der Stretto kommen in aller Regel mit Standardkalibern „von der Stange“, produziert von Drittanbietern wie beispielsweise Citizen-Miyota (mehr: Manufakturkaliber vs. Standardkaliber: Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt).
Auf dem Papier lockt die Ganggenauigkeit des F6722 mit -15 bis +25 Sekunden pro Tag nicht unbedingt Uhrenfreunde mit hohen Anforderungen an gute Gangwerte hinter dem Ofen hervor – praktisch sind die Gangwerte von Orient-Kalibern meiner Erfahrung nach aber meistens besser als die Spezifikationen befürchten lassen. Die mir vorliegende Testuhr läuft mit +14 Sekunden pro Tag innerhalb der Spezifikation, aber in einem Rahmen aus der Kategorie „ganz okay“ – Ganggenauigkeitsfreunde mögen dabei vielleicht in Richtung einer zusätzlichen Reglage schielen.
Die Werksdekorationen des F6722 sind ferner überschaubar – Brücken und Platinen zeigen sich komplett undekoriert. Nur der recht ansehnlich gravierte Rotor sticht hervor. Hier hätte es auch ein Stahlboden ohne Sichtfenster getan.



Abschließende Gedanken
Die Stretto bietet gewohnt hohe Orient-Qualität und bewährte, hauseigene Technik, die eine tolle Abwechslung in der Welt der ubiquitären NH35 und Miyota bietet. Der etwas höhere Listenpreis der Stretto gegenüber der Bambino (Liste 379€ vs. 325€, jeweils am Stahlband) rechtfertigt sich durch das aufwändigere Blatt, das Saphirglas und die geringfügig höhere Wasserdichtigkeit (3 bar vs. 5 bar), wobei ich hier auch sagen will, dass die Stretto sich gerne hätte in Richtung 10 bar orientieren dürfen, um sich als Stahl-Sporti besser von der Bambino-Dresswatch zu differenzieren.

Unterm Strich: Die Stretto ist sicherlich mehr Evolution als Revolution – ein neues, klassisch gestaltetes Gesicht auf einer bekannten technischen Basis. Wer Orient schon länger „auf dem Radar“ hat, wird das schnell erkennen. Aber egal, ob Orient-Neuling oder -Kenner: In jedem Fall bekommt man mit der Stretto eine tolle Einsteiger-Uhr, die preis-leistungs-technisch wieder mal mehr als gelungen ist, die gleichzeitig allerdings auch mit Blick auf Wettbewerber-Modelle wie die Citizen NJ0150 „Tsuyosa“ Automatic oder (eine Preisetage höher) die Tissot PRX namhafte und beliebte Konkurrenz hat.

Übrigens: Neben der dauerhaft ins Sortiment aufgenommenen (Contemporary) Stretto, gibt’s zum Jubiläum auch noch drei limitierte Versionen: Day & Night (2.500 Stück), Semi Skeleton (2.800 Stück) und Date (2.900 Stück). Gemeinsam haben sie das alte Orient-Logo in Schreibschrift und den Jubiläumsboden mit Sichtfenster und Gravur. Wer allerdings auf substanzielle technische oder konstruktive Unterschiede hofft, wird vielleicht ein bisschen enttäuscht sein: Die Basis bleibt weitgehend identisch zu den regulären Contemporary-Modellen (F6-Kaliberreihe, nur eben auch mit „Opean Heart“ und Sonne-/Mond-Komplikation).

Wenn dir dieser Artikel gefallen hat, freue ich mich über ein Like bei Facebook, Instagram, YouTube oder
Auch über WhatsApp kannst du immer auf dem neuesten Stand bleiben – jetzt abonnieren:

Darüber hinaus freue ich mich über Kommentare immer sehr (Kommentare werden in der Regel innerhalb kurzer Zeit geprüft und freigeschaltet). Vielen Dank!
Schöne Uhr und interessant zu lesen, dass in Thailand die Mittelschicht rasant zunimmt. Die Mittelschicht ist zwar nicht genau definiert, dürfte aber zwischen 750€-2.500€ Monatseinkommen liegen.
Bei uns ist man dabei die Mittelschicht abzuschaffen…
Das Armband erinnert mich an die der Grand Seiko Uhren (Evolution 9), wenn vielleicht auch nicht der selbe Standard, so ist Orient doch bekannt für hervorragende Qualität.
Für die, die hierzulande aus der Mittelschicht raus sind, eine echte Alternative zu den vielen Überfliegern aus der Schweiz.