Historische Militäruhren wie Beobachtungsuhren und Flieger-Chronographen der deutschen Luftwaffe oder auch Field Watches der US-Streitkräfte sind bis heute eine beliebte Design-Grundlage für Uhrenhersteller (siehe z.B. Laco, Hanhart, Hamilton). Kaum bekannt hingegen ist die japanische Seikosha Tensoku “Kamikaze”-Fliegeruhr aus dem Zweiten Weltkrieg – ein fast vergessenes, gleichsam aber überaus spannendes historisches Fragment der Unternehmensgeschichte des Uhrenherstellers Seiko …
Seikosha Uhren-Fabrik und die Entstehung der Seiko-Militäruhr Seikosha Tensoku
Seikosha (精工舎, deutsch „Präzisionsarbeitengebäude“) produzierte Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem Wanduhren, Taschenuhren und Wecker. Anfang des 20. Jahrhunderts folgten die ersten Armbanduhren. Im Jahre 1937, also wenige Jahre vor dem Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg, wurde die Armbanduhrenproduktion in die Firma Daini Seikosha (“2. Präzisionsarbeitengebäude”) abgespalten. Während des Zweiten Weltkrieges musste Daini Seikoshas Firmensitz in Kameido, Präfektur Tokio, aufgrund mehrerer Bombenangriffe an Standorte außerhalb der Hauptstadt evakuiert werden*. Das stoppte die Produktion von Uhren für die kaiserliche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg aber nur für kurze Zeit.
* Notiz am Rande: Einer der Evakuierungsstandorte, das Daini Seikosha-Werk Suwa (heute Seiko Epson) war nach dem Zweiten Weltkrieg treibende Kraft bei der Entwicklung des Quarzantriebs und der Seiko Spring Drive Kaliber.
(Daini) Seikosha zeichnete sich während des Zweiten Weltkriegs unter anderem für die Produktion von Uhren für die Cockpits der japanischen Kampfflugzeuge verantwortlich (hauptsächlich Flugzeuge vom Typ Mitsubishi A6M Zero). Ungewöhnlich: Die Cockpituhren konnten von den Piloten entnommen und um den Hals getragen werden:
Daini Seikosha produzierte außerdem Armbanduhren für Kampfpiloten, unter anderem das Modell Seikosha Tensoku (= Abkürzung für tentai kansoku, deutsch “astronomische Beobachtung”). Unter Sammlern ist das Modell auch bekannt als Seikosha Kamikaze-Uhr (dazu gleich mehr).
Die Seikosha Tensoku hat einige Gemeinsamkeiten mit deutschen Beobachtungsuhren – insbesondere die Gehäuse-Größe war für damalige Verhältnisse mit 48,5 mm riesig (wenngleich nicht ganz so riesig wie die 55 mm großen deutschen Beobachtungsuhren). Die Uhr war damit gut über der dicken Fliegerjacke oder gar sitzend auf dem Oberschenkel tragbar.
Bild: Auktionshaus Phillips Bild: Auktionshaus Phillips
Ein charakteristische Merkmal der Seikosha Tensoku ist auch die griffige, kannelierte und drehbare Lünette mit innenliegender Skala, um den Start der Mission zu markieren und damit auf die verstrichene Zeit schließen zu können.
Auch eine Anwendung als Kompass war durch Nutzung der zentralen Stundenmarkierung möglich (das Funktionsprinzip findet auch heute noch bei analogen Uhren Anwendung, siehe mein Review zur traser P68 Pathfinder).
Ziffern und Indizes waren mit Radium beschichtet und leuchteten damit permanent.
Augenscheinlich ist auch die XXL-Zwiebel-Krone, die eine Bedienung der Uhr mit dicken Handschuhen ermöglichte (in den Kampfflugzeugen war es ziemlich frostig und warme Kleidung stets nötig).
Bild: Auktionshaus Phillips
Laut dem Leiter des Seiko-Museums in Tokio, Hiroaki Kobari, gab es zwei Varianten des Handaufzugskalibers, die in der Seikosha Tensoku verbaut wurden: Frühe Kaliber kamen mit 15 Steinen, waren sehr präzise und bekamen eine Oberflächenbearbeitung spendiert. Später wurden die Kaliber deutlich schlichter produziert, mit nur 9 Steinen und ohne Oberflächenbearbeitung, die Ganggenauigkeit war eher schlecht. Das spricht dafür, dass viele dieser Uhren gegen Ende des Zweiten Weltkrieges für Kamikaze-Flieger vorgesehen waren – oder anders gesagt: Die Uhren hatten (wie auch die Piloten) damals nur eine kurze Lebenserwartung…
Bild: Auktionshaus Phillips Bild: Auktionshaus Phillips
Seiko-Militäruhr Seikosha Tensoku – warum “Kamikaze”?
Die Fliegeruhr Seikosha Tensoku ist unter Vintage-Sammlern und Seiko-Fans auch bekannt als Seikosha Kamikaze-Uhr. Auch, wenn es historisch nicht 100% belegt ist, so sollen insbesondere junge Selbstmord-Piloten, die ihr Flugzeug als fliegende Waffe in feindliche Kriegsschiffe steuerten, dieses Modell bei ihrem letzten Flug getragen haben (Shimpū Tokkōtai, 神風特攻隊, japanisch für Kamikaze-Spezialangriffstruppe).
Traurige Berühmtheit erlangten die japanischen Kamikaze-Piloten beim Angriff auf den hawaiianischen US-Stützpunkt von Pearl Harbour sowie bei der Schlacht um Okinawa (Operation Iceberg).
Kaum vorstellbar: Alleine bei einem japanischen Angriff am 6. April 1944 flogen fast 2000 japanische Piloten (mehr oder weniger freiwillig) in den Tod, um US-amerikanische Schiffe zu versenken. Hier einige bewegte Bilder vom Smithsonian-Institut:
Seiko-Militäruhr Seikosha Tensoku “Kamikaze” – Re-Issue?
Die Seikosha Tensoku ist unter Vintage-Sammlern ein überaus begehrtes Modell. Beim Auktionshaus Phillips kam die Kamikaze-Uhr vor einiger Zeit für umgerechnet über 20.000 Euro unter den Hammer. Logisch, denn wegen der damaligen Anwendung an Bord von Kamikaze-Flugzeugen sind gut erhaltene Modelle heute überaus rar.
Leider gibt es für den kleinen Geldbeutel (Stand Ende 2020) keine ernstzunehmende, optisch ähnliche Uhr – weder von Seiko, noch von einer Microbrand (vom Billig-Quarzer auf Amazon sollte man dringend die Finger lassen).
Die polnische Microbrand G. Gerlach produzierte vor einigen Jahren zwar eine Fliegeruhr, die sich sehr nah am Design der Seikosha Tensoku “Kamikaze”-Uhr bewegte, die Uhr war allerdings auf 150 Stück limitiert und ist nur noch mit viel Glück auf dem Gebrauchtuhrenmarkt erhältlich.
Eine gewisse optische Ähnlichkeit besteht aber zum Modell Pioneer One vom Schwarzwälder Traditionsunternehmen Hanhart (große Krone, kannelierte Lünette, schlichtes Zifferblatt). Preispunkt: Knapp 900€.
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Ich glaube nicht, dass Kamikaze-Piloten schon in Pearl Harbor zum Einsatz kamen. Das war eine verzweifelte Strategie zum Ende des Krieges als Japan der US Navy nicht mehr viel entgegen zu setzen hatte.
Ansonsten mal wieder ein interessantes Stueck Uhrengeschichte.