Das Sellita SW200 und das ETA 2824-2 gehören zu den am weitesten verbreiteten mechanischen Uhrwerken in der modernen Uhrenwelt. Beide Kaliber sind für ihre Robustheit, Zuverlässigkeit und Wartungsfreundlichkeit bekannt. Wie viele wissen, war das ETA2824 der Vorreiter vom SW200 von Sellita und gilt durch die jahrelange Entwicklung an dem Werk als der „Panzer“ unter den Uhrwerken. Doch oft wird die Frage gestellt: Ist das Sellita SW200 eine exakte Kopie des ETA 2824-2 oder gibt es relevante Unterschiede? Als die Patente von ETA an dem Werk ausgelaufen sind, hat sich Sellita dies zu Nutze gemacht und ein sehr sehr ähnlich aussehendes Werk auf den Markt gebracht. In diesem Bericht möchte ich etwas näher auf die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Geschichten der Werke eingehen.
[Beitrag von Leon Zihang, Uhrmacher und Kopf hinter ChronoRestore.com] | ![]() |
Sind Sellita SW200 und ETA 2824-2 wirklich IDENTISCH?
Die ETA SA ist ein Unternehmen mit Wurzeln, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde sie zum dominierenden Hersteller mechanischer Uhrwerke in der Schweiz. Mit der Einführung des ETA 2824 im Jahr 1971 setzte das Unternehmen einen Standard für automatische Uhrwerke, der bis heute maßgeblich ist. Schon die Erstentwicklung des Werkes konnte sich als sehr stabil und zuverlässig durchsetzen. Die jahrelangen Weiterentwicklungen und Verbesserungen haben es zu dem „Panzer“ gemacht, das es heute ist.
Sellita hingegen wurde 1950 gegründet und war lange Zeit ein Zulieferer für ETA. Nachdem ETA im Zuge der Swatch Group-Strategie begann (oder beginnen musste), seine Werke nicht mehr an Drittanbieter zu liefern, entschied sich Sellita, eigene Kaliber herzustellen. Da viele Patente des ETA 2824-2 abgelaufen waren, konnte Sellita das SW200 entwickeln, das sich stark am Vorbild von ETA orientiert.
Beide Uhrwerke haben deshalb nahezu identische technische Spezifikationen:
- Durchmesser: 25,6 mm
- Höhe: 4,6 mm
- Halbschwingungen: 28.800 A/h (4 Hz)
- Gangreserve: ca. 38 Stunden
- Automatischer beidseitiger Aufzug
- Datumsmechanismus mit Schnellverstellung
- Hemmung: Schweizer Ankerhemmung
- Stoßsicherung: Novodiac oder Incabloc (je nach Ausführung)
Unterschiede zwischen SW200 und ETA 2824-2
Obwohl das SW200 fast identisch mit dem ETA 2824-2 ist, gibt es doch den einen oder anderen Unterschied, bei dem Sellita das Werk weiterentwickeln wollte:
1. Lagersteine
Das ETA 2824-2 besitzt 25 Lagersteine, während das SW200 einen zusätzlichen Lagerstein aufweist und damit insgesamt 26 Lagersteine hat. Dieser zusätzliche Rubin befindet sich an der Federhauslagerung in der Federhausbrücke.
Praktische Bedeutung: Der zusätzliche Rubin soll den Verschleiß reduzieren. Dies kann aber in frühen Versionen des SW200 auch zu Problemen mit dem Rotor führen, wenn die Gangreserve zur Neige geht.
2. Automatikaufzug
Beide Werke haben einen beidseitigen Automatikaufzug. Der neue vorher genannte Lagerstein erzeugt allerdings auch Probleme für den Automatikmechanismus: In der ersten Version des SW200 gab es Berichte über Probleme mit abbrechenden Zähnen am Sperrrad des Aufzugsmechanismus. Diese Schwachstelle wurde mit der verbesserten Version SW200-1 behoben. Das Rubinlager in der Federhausbrücke sorgt für eine deutliche Reibungsminimierung an dieser Stelle. Während das ETA2824 hier eine leichte kontrollierte Reibung besitzt, dreht sich der Federkern des SW200 deutlich leichter. Dies führt zu schnellen und unkontrollierten Bewegungen des schweren Rotors. Dies verursacht auch heute noch (aber nur noch sehr selten), dass sich die Zähne zwischen Automatikgetriebe und Sperrrad fressen und die Zähne abbrechen. (Abbildung 1)

Zusätzlich führt die schnelle Bewegung des Rotors zu extremerer Belastung der Klinkenräder, was zu einem höheren Verschleiß führt.
Ein weiteres Detail ist das Wechselrad des Automatikaufzugs, das im SW200 leicht anders geformt ist als im ETA 2824-2. Während dies in der Praxis keine spürbare Auswirkung auf die Funktion hat, kann es bei der Wartung bezüglich der Austauschbarkeit von Teilen zu Problemen führen. In Abbildung 2 kann man links das Sellita- und rechts ETA-Wechselrad sehen. Wie man sieht, ist hier die Verzahnung etwas anders geformt.

3. Unruhbrücke und Hemmung
Das SW200 und das ETA 2824-2 verwenden eine nahezu identische Unruhbrücke. In frühen Versionen des SW200 wurde jedoch beobachtet, dass die Toleranzen nicht ganz so eng waren wie bei ETA. Dies konnte in Einzelfällen zu einer schlechteren Regulierbarkeit führen. Neuere SW200-1-Versionen haben dieses Problem verbessert.
4. Aufzugsräder und Federhaus
Während das Grundlayout nahezu identisch ist, unterscheiden sich die Fertigungsstandards geringfügig. Bei manchen Versionen des SW200 fällt auf, dass die Aufzugsräder eine etwas andere Oberflächenbearbeitung haben als beim ETA 2824-2. Dies kann Einfluss auf die Langlebigkeit und den Reibungswiderstand haben. Leider sind die Unterschiede so marginal, dass ich sie nicht in Bilder fassen kann. Dies hat sich über die Zeit einfach gezeigt, dass ETA hier minimal die Nase vorne hatte. Beim SW200-1 kann man aber eigentlich kaum noch Nachteile von Sellita feststellen.
Ein weiterer Unterschied ist, dass Sellita die Verzahnung des Federhauses leicht modifiziert hat, was zu einem minimal anderen Kraftfluss führen kann. In Abbildung 3 kann man links das Sellita- und rechts das ETA-Federhaus erkennen. Abgesehen davon, dass das ETA-Federhaus nach Jahren der Nutzung schon einen leichten Grad an den Zähnen zeigt, ist erkennbar, dass die ETA Zähne etwas eckigere Zahnflanken besitzen, währen die Sellita-Zähne etwas runder gestaltet sind.

5. Wartung und Ersatzteilkompatibilität
Ein großer Vorteil für uns Uhrmacher ist die hohe Kompatibilität zwischen beiden Uhrwerken. Viele Teile des SW200 können im ETA 2824-2 verwendet werden und umgekehrt. Besonders betroffen sind:
- Unruhwelle
- Ankerhemmung
- Automatikmodul (größtenteils kompatibel)
- Zeigerwerk
Allerdings sind einige Komponenten nicht kompatibel, insbesondere der Kloben des Automatikaufzugs sowie Teile des Räderwerks.
Die Tatsache, dass viele Ersatzteile austauschbar sind, macht das SW200 zu einer praktikablen Alternative für Uhrmacher, insbesondere weil ETA-Werke nicht mehr so frei erhältlich sind wie früher. Dennoch ist es immer noch leichter an ETA-Ersatzteile ran zu kommen als an Sellita-Teile. Dies befindet sich aber gerade im Umschwung und die Lieferanten haben immer mehr Sellita-Teile verfügbar.
5. Verarbeitung und Langzeitqualität
Während ETA durch jahrzehntelange Erfahrung extrem enge Toleranzen einhalten kann, wurden bei frühen SW200-Werken gelegentlich Schwankungen in der Fertigungsqualität beobachtet. Woher soll das auch kommen? Sie habe ja gerade erst mit der Herstellung eigener Werke begonnen. Neuere Versionen haben sich jedoch stark verbessert, und viele Hersteller setzen heute auf das SW200-1 als zuverlässige Alternative zum 2824-2.
Ein oft diskutierter Punkt ist das Verhalten der Werke bei leerer Gangreserve. Wie oben schon erwähnt, gibt es beim SW200 bei niedriger Gangreserve Probleme mit unkontrollierten Rotorbewegungen. Dazu kommt der oft angetroffene Helikoptereffekt, bei dem sich der Rotor unkontrolliert in eine Richtung mit dreht, wenn die Uhr von Hand an der Krone aufgezogen wird. Dies tritt beim 2824-2 nicht in diesem Maße auf. Erfahrungsgemäß musste ich feststellen, dass dies beim Sellita SW200 aber nur die älteren Versionen der kleineren Qualitätsstufen betrifft. Warum dies insbesondere bei den kleineren Qualitätsstufen auftritt, kann ich leider nicht sagen. Das ist mir bis heute selbst noch ein Rätsel. Vielleicht werden hier die Klinkenräder (Abbildung 4) anders geölt.

Mit der Entscheidung von ETA, weniger Werke an Dritthersteller zu liefern, hat Sellita eine Marktlücke gefüllt. Viele bekannte Marken wie Oris, Baume & Mercier und TAG Heuer nutzen inzwischen das SW200 anstelle des ETA 2824-2.
Für uns Uhrmacher bedeutet dies, dass das SW200 immer häufiger gewartet werden muss. Während sich die Werke in den meisten Fällen ähnlich verhalten, gibt es kleine Unterschiede, die in der Praxis beachtet werden müssen, insbesondere bei typischen Fehlern und der Wahl der Ersatzteile. Typische Fehler habe ich oben genannt. Diese mussten aber auch erst von uns in Erfahrung gebracht werden. Trotz aller Erfahrung lässt das Uhrmacherhandwerk keine Besonderheit aus und es kommen immer wieder faszinierende Fehler und Probleme in den Uhren auf, die man so noch nie gesehen hat. Es bleibt also immer spannend. 😊
Fazit: Ist das SW200 eine echte Alternative?
Das Sellita SW200 ist keine exakte Kopie des ETA 2824-2, sondern eine sehr nah an das Original angelehnte Reproduktion mit kleinen Änderungen. Durch den zusätzlichen Lagerstein und die kleinen, kaum erkennbaren konstruktiven Unterschiede unterscheidet es sich in einigen Aspekten vom ETA-Werk.
Uhrmacher sollten sich der feinen Unterschiede bewusst sein, insbesondere bei der Ersatzteilbeschaffung und der Wartung. Während das ETA 2824-2 durch seine lange Tradition und extrem hohe Verarbeitungsqualität besticht, hat sich das SW200 mittlerweile als ernstzunehmende Alternative etabliert und wird von vielen Uhrenmarken verwendet. Selbst wenn man sich als absoluten Sellita-Gegner ausweist (warum auch immer), kann man immer noch auf weitere Hersteller wie STP zurückgreifen. Hier haben die Hersteller und meine Wenigkeit aber oft keine guten Erfahrungen gemacht. Hier gab es sehr viele Probleme und Garantiefälle, weshalb die Hersteller schnell wieder auf Sellita umgestiegen sind. Trotz der anfänglichen kleinen Probleme bei Sellita läuft es mittlerweile doch sehr zuverlässig und macht dem ETA 2824 aus technischer Sicht mehr als nur Konkurrenz.
Ich hoffe der kleine Vergleich hat euch gefallen!
Ich freue mich natürlich jederzeit über Rückmeldungen in den Kommentaren!
Bis zum nächsten Mal!
Euer Leon von ChronoRestore
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Herbert
Bei der Verzahnung in Uhrwerken muss man zwischen Evolventen-Verzahnung und Zykloiden-Verzahnung unterscheiden. Die Evolventen-Verzahnung wird im Räderwerk von Uhrwerken verwendet, weil das Räderwerk vom Langsamen ins Schnelle übersetzt wird. Evolventen-Verzahnung findet man in Getrieben von Autos etc., aber auch manchmal an Federhäusern, weil die Zähne robuster sind. Evolventen und Zykloiden können aber nicht kombiniert werden, weil sich die Abrollkurven unterscheiden.
Der Artikel kommt mir irgendwie bekannt vor, gabs den schonmal bei euch?:) Eine Frage bezüglich „Traktor-Werk“: Die Unruh ist ja bei beiden nicht frei schwingend , sondern wird mittels Rückern eingestellt. Kann das ein Problem sein? Können sich diese zB nach einem Sturz oder Schlag verstellen?
Für mich als Uhrenliebhaber sind solche fundierten Berichte vom Fachmann immer interessant. Demnach sind ETA2824-2 und Sellita SW200 aus aktueller Produktion in etwa gleichwertig. Da sich das ETA2824-2 über so lange Zeit hinweg bestens bewährt hat und es keinem Patentschutz mehr unterliegt, gibt es noch weitere Klone von Hongkong Precicion, daß PT5000, Sesgull etc.. Diese Kaliber habe ich in Uhren aus China und vor allem mit dem PT5000 ausgesprochen gute Erfahrungen. Daher würde mich ein erweiterter Vergleich unter Einbeziehung auch dieser Uhrwerke interessieren.
Leon,
vielen Dank für den extrem informativen Beitrag! Der ist wirklich lesenswert und bestätigt (leider) meine Erfahrungen, ich mit älteren Sellita SW200 schon gemacht habe. Offenbar hat sich das aber glücklicherweise inzwischen verbessert. Danke auch für die Hinweise bezüglich der Probleme bei STP. Da habe ich zwar persönlich keine Erfahrungen, habe aber verschiedentlich Ähnliches gehört.
Wir alle wissen Deine neutralen sachlichen Beiträge zu schätzen – bitte mehr davon!
Dir und dem ganzen Team erst einmal schöne Osterfeiertage!