Der erste automatische Chronograph der Welt – der muss doch aus dem weltberühmten Uhrmacherland Schweiz kommen, oder? Nö, kommt er nicht: Die Ehre gebührt dem japanischen Traditionsunternehmen Seiko, der Ende der 60er Jahre mit seinem Kaliber 6139 eine Nasenspitze vor der Schweizer Konkurrenz ins Ziel gekommen ist. Verpackt war das Kaliber 6139 damals erstmalig im Modell Seiko Speedtimer – und genau dieses Modell hat Seiko im Jahre 2021 im Rahmen der Prospex-Uhrenkollektion in verschiedenen Varianten neu aufgelegt.
In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die geschichtlichen Hintergründe der Seiko Speedtimer aus den 60er und 70er Jahren sowie das aktuelle Retro-Modell Seiko Speedtimer SRQ037J1, das mit dem Automatikkaliber 8R46 mit Schaltrad und vertikaler Kupplung ausgestattet ist…
Eckdaten Seiko Speedtimer SRQ037J1:
- Automatik-Kaliber 8R46, 45 Stunden Gangreserve, Schaltrad, vertikale Kupplung
- Durchmesser 42,5 mm, Höhe 15,1 mm, Horn-zu-Horn 45,5mm
- Edelstahlgehäuse mit Super-Hard-Coating
- Gehäuseboden verschraubt
- Wasserdichtigkeit 10 bar
- Doppelt gewölbtes Saphirglas, Innenseite entspiegelt
- LumiBrite auf Zeigern und Indizes
- Edelstahlband mit Sicherheitsfaltschließe, 20 mm Anstoß, verjüngt sich auf 18 mm
- Gewicht: 194 Gramm
- Listenpreis: 3000€, direkt in der Seiko Online-Boutique
INHALT
Geschichte der Seiko Speedtimer: das erste automatische Chronographen-Kaliber der Welt
Wenn wir uns mit der Seiko Speedtimer beschäftigen, so müssen wir den Blick zunächst Richtung Uhrwerk wenden: Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar bereits zuverlässige Chronographen-Kaliber mit mechanischem Handaufzug – das i-Tüpfelchen, ein automatischer Antrieb in Kombination mit Chronographen-Komplikation (Stoppuhr), blieb allerdings noch für Jahrzehnte der Traum der Uhrmacher dieser Welt – von der Schweiz bis nach Japan.
Anfang der 1960er Jahre schien die Zeit aber langsam reif für einen Automatik-Chronographen: Das „Who is Who“ der Uhren-Welt stieg in das Rennen um die Entwicklung ein, jeder wollte dabei natürlich der Erste sein. Zenith (mit dem El Primero), ein mysteriöses Schweizer Konsortium mit dem Codenamen „Projekt 99“ (bestehend aus den Schwergewichten Breitling, Buren, Dubois-Dépraz und Hamilton) sowie Seiko in Japan investierten kräftig, um den Traum wahr zu machen.
Eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung war es, dass die Chronographen-Funktionalitäten (Stundenzähler und Stoppmechanismus) eine Menge zusätzlichen Platz in Anspruch nahmen – die Uhrenhersteller mussten als eine Konstruktion austüfteln, die trotz automatischen Aufzugs und Chronographenkomplikation so flach war, das die mit einem solchen Kaliber ausgestatteten Uhren dennoch tragbar waren.
Obwohl insbesondere das Projekt 99-Konsortium einen großen Vorteil hinsichtlich der Bündelung von Know-How und der Kostenteilung hatte, waren es nicht die Schweizer, welche das allererste mechanische Chronographenkaliber der Welt in Serie produziert haben – der Sieg gebührte Seiko: Die Japaner haben schon Anfang 1969 mehrere Tausend Seiko 5 „Speed Timer“ Automatik-Chronographen mit dem Kaliber 6139 produziert.
Der Seiko 5 Speed Timer Automatik-Chronograph wurde ab Mai 1969 auf dem japanischen Markt vertrieben. Sowohl das Konsortium als auch Zenith konnten zu dem Zeitpunkt nur Prototypen vorzeigen.
Dazu eine kleine Anekdote am Rande: Seiko war es zunächst gar nicht bewusst, dass das Kaliber 6139 das allererste Chronographenkaliber mit Automatikaufzug war – denn offenbar waren die Japaner von einer noch viel bahnbrechenderen Entwicklung abgelenkt: die allererste kommerziell erhältliche Quarzuhr der Welt, die Seiko Astron.
Seiko und der Weg zum Kaliber 6139
Das Kaliber 6139 ist natürlich auch bei Seiko nicht einfach vom Himmel gefallen: Sicherlich hilfreich bei der Entwicklung des Kalibers 6139 waren Seikos Erfahrungen mit Stoppuhren in den 60er Jahren, darunter Modelle für Sportveranstaltungen wie beispielsweise die 1/5-Sekunden-Stoppuhr mit herzförmigen Nockenmechanismus, der in der Mitte der Unruh angebracht war. Nicht zufällig war Seiko auch offizieller Zeitnehmer der Olympischen Sommerspiele 1964 in Tokio.
Ein nennenswerter “Zwischenmeilenstein” war auch der Seiko Crown Chronograph, der pünktlich zur Olympiade als Ein-Drücker-Chronograph auf den Markt kam. Das Modell war nicht nur Seikos, sondern auch Japans erste Armbanduhr, die mit einer (wenn auch simplen) Stoppuhrfunktion ausgestattet war.
Mit der simplen Stoppuhrfunktion des Seiko Crown Chronos wollte sich Seiko nicht zufrieden geben: Und so wurde ein gewisser Herr Toshihiko Ohki von Suwa Seikosha (heute Seiko Epson) mit der Entwicklung eines Chronographenkalibers beauftragt, das später als Kalibers 6139 bekannt werden sollte.
Mit einem Außendurchmesser von 27,4 mm und einer Höhe von 6,5 mm war das Kaliber 6139 vergleichsweise klein, die Gangreserve mit 36 Stunden dennoch recht ordentlich. Zum Vergleich: Das bis heute produzierte (ETA) Valjoux 7750 kommt auf 30 x 7,9 mm. Auch technisch hatte das Automatikwerk was zu bieten: Das Kaliber 6139 kam mit Säulenrad und vertikaler Kupplung – genau wie das Kaliber 8R46 in der aktuellen Neuauflage der Speedtimer mit der Referenz SRQ037J1 (dazu aber später mehr).
Beim Kaliber 6139 kam außerdem der sogenannte “Magische Hebel” (Magic Lever) zum Einsatz: Egal in welche Richtung sich die Schwungmasse der Uhr dreht – jede Bewegung wird genutzt, um die Hauptfeder aufzuziehen.
Bis zum Produktionsende Ende der 70er Jahre wurde eine Vielzahl an Seiko-Modellen mit dem Kaliber 6139 ausgestattet. Es bildete die Grundlage für künftige Chronographenwerke wie das Kinetic-Chronographen-Kaliber 9T82, bei dem die Rückstellfunktion in Anlehnung an das Kaliber 6139 entwickelt wurde, sowie das Spring Drive-Kaliber 9R86 (mehr über Spring Drive im Test der Grand Seiko Snowflake).
Seiko Speedtimer Chronograph SRQ037J1: Neuauflage 2021
Der Automatikchronograph SRQ037J1 ist eine der ersten Uhren in der neuen Prospex Speedtimer Serie. Die Neuauflage der Seiko Speedtimer, hier die Referenz SRQ037J1, ist klar in der Retro-Ecke zu verorten: Dank des Kalibers 8R46 kommt die Speedtimer im klassischen Bicompax-Design, das heißt einer Anordnung von zwei Hilfszifferblättern mit Eisenbahnminuterie bei 3 Uhr und 9 Uhr (Stoppfunktion bis zu 30 Minuten in 1/8 Sek.-Schritten und 60-Minuten-Zähler). Schön: Dank einer Anordnung des Datumsfensters auf “6 Uhr” (in Verbindung mit dem Bicompax-Design) ist die Speedtimer SRQ037J1 absolut symmetrisch.
Ansonsten trägt das Zifferblatt-Design der Seiko Speedtimer SRQ037J1 auch Designmerkmale des oben beschriebenen Seiko Crown Chronographen der 60er Jahre – so wie beispielsweise die applizierten Stundenindizes mit einer Einkerbung in der Mitte und die spitz zulaufenden, knackig-scharfen Dauphine-Zeiger.
Sowohl Zeiger als auch Indizes sind poliert. In Verbindung mit dem applizierten SEIKO-Schriftzug auf “12 Uhr” ergeben sich schicke Lichtreflexionen bei direktem Lichteinfall.
Die hauseigene Lumibrite-Leuchtmasse auf den Ziffern und Zeigern kommt in einem einem bräunlichen Farbton, um die Retro-Optik des Modells zu unterstreichen. Solche „Faux-Patina“, die letztendlich das Altern von früher bei Uhren eingesetzter Radium-Leuchtmasse imitiert, sorgt zwar regelmäßig für Diskussionen unter Uhrenfreunden, im Falle der Seiko Speedtimer finde ich die Wahl aber goldrichtig. Im Dunkeln erstrahlt das Lumibrite übrigens bläulich.
Wie es sich für einen Chronographen gehört ist auch eine Tachymeter-Skala an Bord, die beispielsweise zur Bestimmung von Durchschnittsgeschwindigkeiten herangezogen werden kann: Löst man zum Beispiel die Zeitmessung mit dem oberen Drücker des Chronographen beim Einfahren eines Rennwagens in einen 1 km langen Streckenabschnitt aus und fährt der Rennwagen beispielsweise nach 15 Sekunden in den nächsten Streckenabschnitt ein, so kann man auf der (innenliegenden bzw. auf dem Rehaut untergebrachten) Tachymeterskala sofort die Durchschnittsgeschwindigkeit für den Streckenabschnitt, also in diesem Beispiel rund 240 km/h, ablesen.
Auch das Gehäuse kommt im Retro-Design: So erinnern beispielsweise die Chronographen-Drücker an Motorkolben (auch Pilzkopf-Drücker genannt) – auch das ist ein typisches Merkmal von Chronographen der 60er Jahre.
Gleichzeitig setzt Seiko eine moderne Technologie ein: Wie die Seiko Astron GPS Solar kommt auch die Seiko Speedtimer mit einem Gehäuse aus 316L-Edelstahl samt Spezialbeschichtung mit dem Namen Super-Hard-Coating (oder auch Diashield), die zusätzlich vor Kratzer schützen soll. Dahinter verbirgt sich Seiko hauseigene Oberflächenbehandlung, das optisch für einen dezenten gräulichen Schimmer und funktional für einen bis zu dreifach höheren Schutz vor Kratzer sorgt (Härte nach Vickers mit Super-Hard-Coating = 650 HV, ohne = 200 HV). Insbesondere „Micro-Swirls“, die beispielsweise beim Arbeiten am Schreibtisch entstehen, dürften dadurch deutlich seltener auftreten.
Mit einer Höhe von 15 mm baut die Seiko Speedtimer vergleichsweise hoch, nach unten hin läuft das Gehäuse aber leicht konisch zu, was die Höhe etwas relativiert. Auch der Durchmesser (auf dem Papier: 42,5 mm) wirkt wegen der polierten Lünette und des eher geringen Zifferblattdurchmessers (35 mm) etwas kleiner. Die Seiko Speedtimer ist dennoch alles andere als eine zierliche Uhr: Der Chrono macht einen haptisch sehr massiven Eindruck, am Stahlband wiegt das Modell immerhin fast 200 Gramm. Kurzum: Wer es liebt eine Uhr auch effektiv am Arm zu spüren, der ist bei der Seiko Speedtimer genau richtig.
Seiko Speedtimer: das Kaliber 8R46 mit vertikaler Kupplung und Säulenrad
Die Seiko Speedtimer SRQ037J1 kommt mit dem Automatikkaliber 8R46, das unter dem verschraubten Glasboden bei der Arbeit begutachtet werden darf. Es handelt sich dabei um eine Variante des 8R48, das mit zwei statt drei Totalisatoren (Hilfszifferblätter) sowie Datumsfenster in zentraler Position auf “6 Uhr” kommt.
Genau wie beim ersten automatischen Chronographenwerk der Welt, dem Kaliber 6139, sind auch beim 8R46 eine vertikale Kupplung und ein Säulenrad (auch Schaltrad genannt) an Bord, die als Qualitätsmerkmale bei mechanischen Chronographenkalibern gelten.
Die Herstellung eines Chronographenkalibers mit Säulenrad und vertikaler Kupplung gilt als vergleichsweise aufwendig und kostenintensiv, weshalb es sich vor allem um Merkmale hochwertiger Manufakturkaliber handelt (siehe beispielsweise Breitling B01, TAG Heuer 02, Rolex 4130 etc.).
Oder man könnte auch sagen: Bei der Frage Säulenrad- vs. Kulissensteuerung und vertikale vs. horizontale Kupplung trennt sich die Spreu vom Weizen.
Ein Chronographenkaliber wie das 8R46, dessen Stoppuhr-Funktion per Säulenrad gesteuert wird, wurde ursprünglich entwickelt, um die Belastung der Kupplung und des Hebels zu reduzieren und die Auswirkungen auf das Uhrwerk zu minimieren, wenn der Start-/Stoppknopf gedrückt wird.
Neben dem Säulenrad ist auch die vertikale Kupplung des 8R46 eine Besonderheit: Diese kam schon beim eingangs erläuterten Kaliber 6139 zum Einsatz, um zu verhindern, dass der Sekundenzeiger des Chronographen beim Drücken des Startknopfes verzögert anläuft. Und das hängt technisch so zusammen: Wenn der Startknopf gedrückt wird, öffnet sich der Start-Stopp-Hebel, woraufhin das Sekundenrad sowie der Kupplungsring durch die Druckkraft der Kupplungsfeder in Bewegung gesetzt werden, um die Zeitmessung zu beginnen. Das Funktionsprinzip ist ähnlich der Kupplung eines Automobils. Der Vorteil: Der Verschleiß ist bei der vertikalen Kupplung wesentlich geringer.
Bei der viel stärker verbreiteten horizontalen Kupplung hingegen (siehe zum Beispiel ETA 7750, Sellita SW500) kann es zu einer gewissen Verzögerung beim Starten/Stoppen des Chronographen kommen, da hier der Kraftschluss zwischen Uhrwerk und Chrono-Mechanismus ausschließlich über Zahnräder realisiert wird. Die Stellung der einzelnen Zähne der Zahnräder wiederum ist dann entscheidend: Startet man den Chronographen, wenn zufällig ein Zahn des Zentrumsrades mit einem Zahn des Übertragungsrades zusammentrifft und noch kein richtiger Eingriff der Zahnräder möglich ist, so läuft der Chrono nur verzögert an.
Die Hemmung im Kaliber 8R46, die wie ein Metronom den Takt der Uhr vorgibt und sich akustisch durch das Ticken bemerkbar macht, ist besonders leicht und robust – dank einer Produktionstechnologie, die man von aus dem Bereich Mikro-Chips kennt: MEMS, also mikroelektromechanische Systeme, arbeiten nicht nur in winzigen Bauteilen, sondern auch in iPods, Herzschrittmachern, Bürodruckern & Co.
Seiko gibt die Ganggenauigkeit des 8R46 in einer recht “großzügigen” Range von -15 bis +25 Sekunden pro Tag an. Faktisch spuckte die Zeitwaage für das 8R46 in der mir vorliegenden Speedtimer einen guten Wert von +6,7 Sekunden pro Tag aus.
Verfügbarkeit, Preis, Varianten
Die Seiko Speedtimer SRQ037J1 ist ab sofort im Seiko-Online-Shop oder im Einzelhandel erhältlich. Auch weitere Speedtimer-Modelle wurden 2021 lanciert: Die auf 1000 Stück limitierte Variante mit der Referenz SRQ035 kommt ebenfalls mit dem Kaliber 8R46 und orientiert sich designtechnisch stark an den historischen Seiko-Stoppuhren der 60er Jahre. Preispunkt: 3200€.
Für das deutlich kleinere Budget lohnt sich der Blick auf die ebenfalls 2021 lancierten Speedtimer-Modelle mit Solar-Kaliber V192, Titankarbidlünette und kleineren 39 mm Durchmesser, darunter die Referenz SSC813P1 im Panda-Design (679€). Die Solarmodule sind bei diesen Modellen direkt in die Totalisatoren integriert.
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Zum Thema „project 99“ empfehle ich wiederum die Lektüre auf der Webseite „onthedash.com“.
Hier finden sich auch Hinweise zur historischen Entwicklung des Projektes, zu dessen Gründervätern neben Breitling auch Heuer gehört.
Großartiger Artikel. Wort für Wort zu lesen und immer schlauer werden. Insbesondere sind auch die Querverweise hervorrragend gemacht. Dennoch interessiert mich bei Chronographen immer wieder, wer denn wirklich über die Stoppfunktion auf der Tachymeterskala seine gefahrene Geschwindigkeit abliest? Vermutlich niemand. Oder gibt es noch weitere Anwendungen für die Tachymeterskala? Mir persönlich scheint eine GMT-Funktion viel öfter einsetzbar zu sein.
Danke für diesen Leserbrief! Beim Lesen musste ich ziemlich 😁 grinsen, weil ich mich bei dem wirklich hervorragenden und ungemein präzisen Artikel (wie kann man nur so viel wissen?) genau dasselbe gefragt habe: Tachymeter, sieht nett aus, benutzt aber wahrscheinlich kein Mensch. Und wenn doch, 🤔 wer? Und wofür, bzw. wofür noch? Also, lieber Klaus R., Deine Gedanken zu diesem Ding waren wohl auch die meinen, zumindest so ähnlich. 😄
Ansonsten wieder eine sehr interessante und sehr schicke Uhr, gefällt mir sehr. Nur bei der Preisangabe mußte ich etwas schlucken, drei Mille resp. dreizwei sind ja nix für die Portokasse, zumindest nicht bei mir, und dafür sind die Werte des Uhrwerks allerdings enttäuschend (-15 bis +25 Sek. erinnern ja mehr an ein Schätzeisen).
Da gefallen mir die viel günstigeren Modelle, was das Preis-/Leistungsverhältnis noch etwas besser. Ansonsten: Well done!