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Mechanische Armbanduhren sind beliebte Begleiter im Alltag oder zu schönen Anlässen. Doch wie ist das mit der Ganggenauigkeit? Es gibt eine weit verbreitete Annahme, dass sich Automatikuhren nach einer Revision oder nach dem Neukauf erst „einlaufen“ müssen, um ihre volle Ganggenauigkeit zu erreichen. In diesem Bericht werden wir der Frage auf den Grund gehen, ob diese Annahme auf technischen Hintergründen beruht oder ob es sich dabei um eine „urbane Legende“ handelt…

[Beitrag von Leon Zihang,
Uhrmacher und Kopf hinter ChronoRestore.com]
Leon Zihang Uhrmacher ChronoRestore
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Bild: Breitling

Muss eine Automatikuhr erst „einlaufen“?

Grundsätzlich weiß jeder von euch, dass mechanische Uhren in nur sehr seltenen Fällen an die Ganggenauigkeit einer elektronischen Quarzuhr herankommen. Woran das liegt, habe ich bereits in zwei vorherigen Berichten zu den natürlichen Störfaktoren auf die mechanische Schwingung der Unruh erklärt (Stöße, Temperaturschwankungen & Co.: Störfaktoren für die Gangwerte einer mechanischen Uhr [Teil 1] und Störfaktoren für die Gangwerte einer mechanischen Uhr: die Kompensation [Teil 2]). Aber muss sich eine mechanische Uhr erst einlaufen, damit sie eine gute Ganggenauigkeit erreicht? Hierfür gibt es bis heute leider keinen wissenschaftlichen Beweis, der bestätigt, dass sich eine Automatikuhr „einläuft“ oder nach einer gewissen Zeit eine bessere Ganggenauigkeit aufweist. Diese Aussage beruht also auf Erfahrungswerten. Auf jeden Fall hat sie sich sehr schnell unter den Uhrenliebhabern verbreitet und ergibt für den menschlichen Verstand auch wirklich Sinn, da man ja auch sagt, dass ein Neuwagen erst „eingefahren“ werden muss oder Schuhe „eingetragen“ werden müssen.

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Ich möchte heute mal meinen „Senf dazugeben“ und meine Vermutungen bzw. Gedanken dazu offenlegen: Grundsätzlich finde ich, dass diese Aussage ihre Daseinsberechtigung hat, da ich denke, dass es davon abhängt, in welcher Reihenfolge die Uhr bei einem Service oder bei der Herstellung zusammengesetzt wird. In diversen YouTube-Videos kann man oft erkennen, dass die Uhrmacher die einzelnen Räder in die Hauptplatine einsetzen und danach die Räderwerksbrücke aufgesetzt wird. Direkt im Anschluss werden auch der Anker und seine Brücke montiert. Danach beginnt der Uhrmacher damit, die Ölsenkungen der Lagersteine des Räderwerks mit Uhren-Öl zu versehen. Ich als Uhrmacher kann diese Reihenfolge nachvollziehen, da sie einfach schneller geht.

Allerdings gehe ich anders vor: Ich öle das Räderwerk bevor ich den Anker einsetze. Warum? Ganz einfach: Weil der Anker das Räderwerk blockiert und somit die Räder beim Ölen stillstehen. Wenn ich den Anker nicht montiert habe, kann ich immer, kurz nachdem ich einen kleinen Tropfen Öl an den Lagerzapfen des Zahnrades gegeben habe, an der Krone drehen und das Öl verteilt sich sofort komplett in der Lagerstelle. Das ist einfach nicht möglich, wenn der Anker schon verbaut ist. Viele Uhrmacher machen dies aber so, um ein paar Sekunden einzusparen, weil man das Werkzeug in seiner Hand nicht mehrmals wechseln muss und der Arbeitsablauf einfach flüssiger von statten geht – mit dem einfachen Nachteil, dass sich das Öl nicht sofort vollständig im Lager verteilt. Hieraus könnte man zum einen dann auch das „Einlaufen“ begründen. Die Räder, die sich nahe beim Federhaus befinden, drehen sich im tickenden Zustand der Uhr nur sehr langsam. Dadurch dauert es natürlich auch eine Weile, bis sich das Rad einige Male gedreht hat und das Öl vollständig verteilt hat. Vielleicht ist ja daraus die Behauptung zum „Einlaufen“ der Uhr entstanden. 🙂

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Ölen eines mechanischen Werkes, Bild: Miyota

Eine andere denkbare Möglichkeit wäre, dass bei der Herstellung der einzelnen Teile Toleranzen verwendet werden und nicht jede Uhr exakt gleiche Teile verbaut bekommt. Einige Zungen behaupten, dass sich die Teile mit Hilfe des natürlichen Verschleißes in einen Bereich bewegen, der für eine Uhr optimal ist und deshalb ein besserer Ablauf der Uhr gewährleistet wird. Dadurch soll sich dann auch die Ganggenauigkeit in einen stabilen Bereich einpendeln. Ob das wirklich so ist, kann man nicht genau sagen, da es, wie schon oben erwähnt, keine wissenschaftlichen Beweise dafür gibt.

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Handelt es sich hierbei also nur um Behauptungen? Das kann ich leider auch nicht genau sagen. Ich kann euch nur meine Erfahrungen bzw. Beobachtungen zu diesem Thema schildern. Ich kann diese Gedanken tatsächlich verstehen und sie ergeben für mich, wie auch für viele andere da draußen, irgendwie auch Sinn. Aus diesem Grund gehe ich bei der Montage der Uhren auch in der vorher genannten Reihenfolge vor, in der Hoffnung, dass ich diese Behauptung damit ausschließen kann. Auch, dass sich die Toleranzen der gefertigten Teile erst „einschleifen“ müssen, kann ich in gewissem Maße verstehen, aber leider weiß man nie, wie lange das braucht und genau prüfen kann man es ja auch nicht.

Ab wann ist eine Uhr eingelaufen und ab welchem Punkt wird es wieder schlechter? Der Verschleiß hört ja leider nicht auf, sobald die Uhr eingelaufen ist. Das sind alles Punkte, die mich zu dieser zweiten Behauptung etwas stutzig machen. Obwohl ich schon öfter beobachten musste, dass einige Uhren tatsächlich ein paar Wochen mit schwankenden Gangwerten zu tun hatten und sich dann in einem gewissen Bereich stabil eingependelt haben.

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Nun aber zurück zu meiner Meinung: Ich glaube, dass Ihr als Uhrenfreunde das „Einlaufen“ vermutlich nie mitbekommen werdet (sofern es sich um einen guten Uhrmacher handelt)! Sowohl nach der Herstellung als auch nach einem Service wird die Uhr ausgiebig getestet. Dieser Vorgang nimmt mindestens ein paar Tage bis mehrere Wochen in Anspruch. Ich vermute, dass sich die Uhren in dieser Zeit bereits ganz gut stabilisieren.

Ich hatte es tatsächlich schon oft, dass die Uhren in meiner Endkontrolle nochmal eine Gangänderung durchleben und nochmal nachreguliert werden mussten. Danach durchlaufen sie die Endkontrolle noch einmal von vorne und meist bleibt der Gang dann auch schon stabil. Diesen Prozess würde ich tatsächlich als „Einlaufen“ bezeichnen. Ob das nun an den Toleranzen oder der Verteilung des Öls liegt, kann man nur vermuten. Wenn eine Uhr die ganze Zeit in der Endkontrolle schwankende Gangwerte aufweist und sich das ganze auch nach wenigen Tagen nicht ändert, dann hat das meist andere Gründe bzw. Einstellungsfehler.

Sehr anfällig für stetige Veränderungen der Gangwerte sind sehr alte und schon gut verschlissene Uhren und vor allem Uhren, die schon einmal einen Wasserschaden hatten (dies sind meine Erfahrungen!).

Mehr: Uhrenglas beschlagen – was tun? Beispiel Wasserschaden einer alten Rolex

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Von innen beschlagenes Uhrenglas bei einer Rolex GMT-Master 16750 mit Spider Dial

Ich denke, dass sich die verschlissenen Uhren selbst erklären. Irgendwann ist alles mal kaputt und so ist es auch bei den mechanischen Uhren. Auch wenn es oft wehtut, ist auch hier irgendwann der schrottreife Zustand erreicht. Da ist es dann meist auch nicht mit dem Tausch von zwei, drei Rädchen getan. Der Verschleiß hat sich über die Jahre ja nicht nur auf diese drei Teile beschränkt.

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Von innen beschlagenes Uhrenglas bei einer Rolex GMT-Master 16750 mit Spider Dial

Bei Uhren mit Wasserschaden vermute ich, dass es sich um kleinste Korrosionen an den Rädern als auch an der Spirale handelt, die einen Einfluss auf die Ganggenauigkeit haben. Wenn ich es genau wüsste, würde ich es euch wirklich gerne sagen, aber Uhren mit Wasserschaden zeigen oft, trotz mehrerer Kontrollen aller Einstellungen, sehr komische Gangwerte. Wenn man denkt diese Schwankungen in den Griff bekommen zu haben, schreibt der Kunde oft Wochen später, dass es wieder sehr schlecht geworden ist. Bei anderen Uhren mit Wasserschaden habe ich es anscheinend dennoch geschafft, da ich hier nichts mehr gehört habe. Deshalb warne ich meine Kunden bei Wasserschäden immer vor, dass ich die Uhr wieder zum Laufen bringe, aber die Gangwerte mit den vorherigen nicht mehr vergleichbar sein könnten. Bis dato konnte ich aber auch bei Uhren mit Wasserschaden die Kunden irgendwann zufrieden stellen, auch wenn es die eine oder andere Reklamation bedarf. 🙂

Vielen Dank für eure Lesekraft!

Bis zum nächsten Bericht!

Euer Leon von ChronoRestore

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Franky
1 Jahr zurück

Ich glaube, daß das individuelle Trageverhalten auch Einfluss auf das Gangverhalten nimmt, also die Uhr bei einem „Zappler“ anders läuft als bei bewegungsarmen Zeitgenossen. Bevor man also zur Gangkorrektur rennt, sollte man vielleicht wirklich Ross und Reiter eine Weile gönnen, sich aneinander zu gewöhnen. Vielleicht spielen ja auch Temperaturen eine Rolle, je nachdem, wie häufig man die Uhr blank oder unter Ärmel(n) trägt…

Harry
1 Jahr zurück

Mein Sinn 903 lief nach dem Neukauf mit ca. 20 Sek. ins plus, der freundliche Mitarbeiter sagte, ich solle aufs Einschicken verzichten und der Uhr erstmal 3 Monate Dauerlauf gönnen, und siehe da: der Vorlauf ging bis auf 3 Sekunden zurück, es hat allerdings sogar noch etwas länger gedauert. Meine Omega SMP nimmt sich nach längerm Liegen immer 2-3 Tage, um dann gleichmäßig mit wenigen Sekunden im Plus zu laufen, das kann ich mir nicht erklären.

Andreas Schluter
1 Jahr zurück

Ich habe neulich eine 5 Jahre alte Rolex gekauft die anfangs mit -3 sec/Tag lief. Nach einer Woche am Arm dann nur noch -0.7 sek!