• Beitrags-Kategorie:Uhren-Technik
  • Beitrags-Kommentare:6 Kommentare
  • Beitrags-Autor:
  • Lesedauer:10 min Lesezeit

Liebe Technik-Begeisterte, in einem meiner älteren Berichte habe ich einen Kommentar mit der Frage bekommen, ob ich auch im Detail über die Stiftankerhemmung schreiben könnte. Genau dieser speziellen Hemmung, die bei den damals revolutionären Roskopfuhren zum Einsatz kamen, möchte ich heute meine Aufmerksamkeit schenken und euch einige geschichtliche Fakten, die Funktion und die Vor- bzw. Nachteile aufzeigen. Los geht’s!

[Beitrag von Leon Zihang,
Uhrmacher und Kopf hinter ChronoRestore.com]
Leon Zihang Uhrmacher ChronoRestore

Stiftankerhemmung und Roskopfuhren: Geschichtliches

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat der deutsch-schweizerische Uhrmacher Georges Friedrich Roskopf die Stiftankerhemmung auf Grundlage einer Erfindung von Louis Perron zur Marktreife geführt. Dies war zu dieser Zeit ein riesiger „Coup“, denn Uhren wurden bis dato in aufwändiger handwerklicher Einzelfertigung hergestellt und hatten deshalb natürlich ihren Preis. Zu dieser Zeit konnten sich nur gutverdienende Geschäftsleute Taschenuhren leisten. Mit der Erfindung von Roskopf konnten Uhren fortan auch in industrieller Massenproduktion hergestellt werden, da sie einfacher konstruiert waren und aus weniger Teilen als die hochklassigen Uhren bestanden.

Somit wurden Uhren auch für die breite Bevölkerung erschwinglich – lediglich 20 Franken kostete die erste von Roskopf auf den Markt gebrachte Taschenuhr anno 1860, was in etwa dem wöchentlichen Lohn eines Arbeiters entsprach. Daher trägt die Uhr bis heute auch den Namen „Arbeiteruhr“ (auch: La Prolétaire).

Die Kehrseite der Medaille: Roskopf-Uhren waren in der Schweiz zu jener Zeit verpönt, da die industrielle Massenproduktion aus Sicht der Schweizer Uhrmacher das Handwerk zu verdrängen drohte. Nur auf mehrmaliges Nachfragen holten die Uhrenverkäufer aus den unteren Schubladen der Verkaufsläden damals diese Uhren hervor.

Roskopf taschenuhr 1860
Jebulon, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Wie es auch heute noch ist, wurden die hochwertigeren Ankeruhren aus der Einzelfertigung nicht verdrängt – im Gegenteil, der Trend ging eher zur hochwertigen Zweituhr. Die Roskopfuhren fanden dann auch zur Zeit der berühmten Quarzkrise Mitte der 1970er Jahre ihr Ende und wurden später kaum bis gar nicht mehr produziert.

Stiftankerhemmung Patent
Reiner Haas Uhren, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Stiftankerhemmung: Aufbau und Funktion

Die Stiftankerhemmung funktioniert denkbar einfach und eigentlich auch simultan zur Palettenankerhemmung. Aber zuerst einmal zum Aufbau der Hemmung. Hierfür habe ich euch den Stiftanker (Abbildung 1) und das Ankerrad (Abbildung 2) aus einer alten Armbanduhr ausgebaut. In Abbildung 1 erkennt man auch sehr schnell, warum diese Uhr als Stiftankerhemmung bezeichnet wird. Der Anker besteht aus einer gestanzten Platte, die auf die Ankerwelle aufgepresst wurde.

Um in das Ankerrad einzugreifen, wurden nun keine Rubinpaletten, sondern einfache Stahlstifte verwendet, die senkrecht in den Anker hineingesteckt wurden. Diese Stifte ersetzen die Rubinpaletten der Palettenankerhemmung. Im hinteren Bereich ist der Anker gleich aufgebaut. Hier erkennt man die Ankergabel mit ihrem Sicherheitsmesser. Dieser Teil des Ankers ermöglicht das sichere Einschwingen der Unruh und das damit verbundene Umwerfen des Ankers, damit sich das Hemmrad/Ankerrad um einen Zahn weiterdrehen kann.

1. Stiftanker einer Rosskopfuhr Stiftankeruhr
Stiftanker einer Roskopfuhr_Stiftankeruhr

Das Hemmrad aus Abbildung 2 sieht auch etwas anders aus als das Hemmrad der Palettenankerhemmung. Im Grunde genommen funktionieren diese aber genau gleich. Der einzige Unterschied ist, dass die Zähne des Hemmrades breiter geworden sind. Das liegt daran, dass die Rollen zwischen Hemmrad und Anker im Vergleich zur Palettenankerhemmung vertauscht wurden. Bei der Palettenankerhemmung befindet sich die Hebefläche an den Paletten des Ankers. Da der Stiftanker anstelle der Palette nur noch Stifte besitzt, wurden die Rollen vertauscht und die Hebeflächen an dem Hemmrad angebracht.

2. Hemmrad einer Rosskopfuhr Stiftankeruhr
Hemmrad einer Roskopfuhr / Stiftankeruhr

Ansonsten funktioniert die Hemmung identisch mit der Palettenankerhemmung. Die Kraft vom Federhaus wird über das Räderwerk an das Hemmrad übertragen und die Drehung von den Stiften des Ankers blockiert. Die schwingende Unruh schlägt den Anker immer wieder um und somit dreht sich das Hemmrad Stück für Stück weiter. Über die Hebeflächen an dem Hemmrad wird dem Anker und somit auch dem Schwingsystem immer wieder Energie zugeführt, damit die Schwingung nicht zum Stillstand kommt. In Abbildung 3 sieht man noch einmal, wie das Hemmrad und der Stiftanker in der Uhr stehen würden und wie die Stifte des Ankers in die Verzahnung des Hemmrades eingreifen.

3. Stiftankerhemmung ausgebaut Hemmrad und Anker im Eingriff
Stiftankerhemmung ausgebaut Hemmrad und Anker im Eingriff

Stiftankerhemmung: Vor- und Nachteile

Die Ganggenauigkeit der Roskopfuhren war im Allgemeinen nicht besonders hoch. Dies lag hauptsächlich an den technischen Einschränkungen dieser Hemmungsart. Die Stiftankerhemmung ist anfällig für Reibung und Verschleiß, was zu Ungenauigkeiten führen kann. Zudem war es schwierig eine konstante Kraft auf das Ankerrad auszuüben, was ebenfalls die Ganggenauigkeit beeinträchtigte. Dies rührt daher, dass natürlich nicht nur an der Qualität der Hemmung, sondern auch anderen Bestandteilen der Uhr bzw. des Räderwerks gespart werden musste.

Uhren mit Stiftankerhemmung, die damals frisch aus der Produktion purzelten, konnten in der Regel nur eine Ganggenauigkeit von etwa ±30 Sekunden pro Tag erreichen. Ihr könnt euch aber auch bestimmt vorstellen, was die Uhr noch leistet, wenn sie schon ein paar Jahre lief und der Verschleiß seine Spuren hinterlassen hat.

Stiftankerhemmungen sind für uns Uhrmacher heute ein kleines Grauen. Der Gang ist sehr instabil und schwankt in unvorstellbaren Dimensionen. Je nach Zustand der Uhr kann man froh sein, wenn man hier eine Gangabweichung von 1-5 Minuten am Tag erhält. Eine konstante Gangabweichung von unter einer Minute ist bei diesen Uhren nur noch selten möglich. Das hängt aber, wie gesagt, stark von dem Zustand und auch von der damaligen Produktionsqualität ab. Auch hier gab es deutliche Qualitätsunterschiede.

Obwohl die Stiftankerhemmung eine wichtige Rolle in der Geschichte der mechanischen Uhren spielte, hat sie heute einige Nachteile gegenüber modernen Hemmungen, wie der Schweizer Palettenankerhemmung.

  1. Ganggenauigkeit: Die Stiftankerhemmung ist bekannt für ihre geringere Ganggenauigkeit im Vergleich zur Palettenankerhemmung (siehe oben).
  2. Reibung und Verschleiß: Aufgrund der Konstruktion der Stiftankerhemmung treten Reibung und Verschleiß häufiger auf. Die Bewegung des Stiftankers gegen den Zahn des Ankerrads führt zu starken Abnutzungen, was die Ganggenauigkeit im Laufe der Zeit weiter beeinträchtigt. Die Palettenankerhemmung hat mit ihren Rubinpaletten einen deutlichen Reibungsvorteil.
  3. Empfindlichkeit gegenüber Störungen: Die Stiftankerhemmung reagiert empfindlich auf äußere Störungen wie Erschütterungen und magnetische Felder. Dadurch kann die Ganggenauigkeit beeinträchtigt werden und die Uhr muss möglicherweise öfter nachgestellt werden.
  4. Komplexität der Einstellung: Im Vergleich zur Palettenankerhemmung ist die Reglage einer Uhr mit Stiftankerhemmung schwieriger. Die Justierung des Ankerwegs erfordert oft mehr Erfahrung und Fachkenntnisse.
Roskopf Taschenuhr 1860er
Taschenuhr mit einem Uhrwerk mit Stiftankerhemmung, Museumsfoto, CC BY 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Die Stiftankerhemmung wurde wegen der beschriebenen Nachteile im Laufe der Zeit vom Markt verdrängt, da andere Hemmungsarten entwickelt wurden, die eine bessere Ganggenauigkeit und Zuverlässigkeit boten. Insbesondere die Schweizer-Palettenankerhemmung hat sich als Standardhemmung in mechanischen Uhren etabliert. Im Vergleich zur Stiftankerhemmung bietet die Palettenankerhemmung eine höhere Präzision und weniger Reibung. Sie ermöglicht eine gleichmäßigere Kraftübertragung und ist weniger anfällig für Verschleiß.

Ich hoffe, dass ich euch einen kleinen Einblick in diese doch sehr wichtige Art der Hemmung geben konnte und alle Fragen des Lesers klären konnte. Ich freue mich auf weitere Fragen und auf eure Rückmeldungen!

Bis zum nächsten Mal!

Euer Leon von ChronoRestore

Abonnieren
Benachrichtige mich bei...
6 Kommentare
Neueste Kommentare
Älteste Kommentare Kommentare mit den meisten Votings
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
schmidt
1 Jahr zurück

Lieber Leon,

auch als Fachmensch freue ich mich immer wieder über Ihre gut, und wie ich meine, allgemein verständlich geschriebenen Artikel.

In dem AU- Chronometer Buch von Fritz v. Osterhausen werden zwei Oris – Kaliber , #491, 8 3/4”” und
#451, 11 1/2”’ beschrieben.

Auch soll F.A. Lange mit Stiftankerhemmungen experimentiert habe.
Dazu habe ich aber keine Quelle, reines Hörensagen.

Beste Grüsse

Konrad
1 Jahr zurück

Guten Tag Leon,
wie Deine anderen Beiträge, war auch diser wieder einmal sehr informativ und lesenswert. Mit viel Aufwand kann man offenbar auch mit Stiftankerwerken die Chronometervorgaben schaffen. Meines Wissens hat Oris das damals mit einigen Kalibern, Handaufzug und Automatik, hinbekommen. Die Datenlage ist aber etwas dünn. Daher die Frage: Stimmen meine Informationen? Über Eine Antwort würde ich mich freuen.

Leon von ChronoRestore
1 Jahr zurück
Antworten...  Konrad

Hey Konrad,

erstmal vielen lieben Dank für das Lob!

Ja natürlich konnte auch mit sehr präzisen Einstellungen und den entsprechenden Materialien ein Chronometergang hergestellt werden. In dem Beitrag bin ich eher auf die industriell gefertigte Stiftankerhemmung für die günstigere Arbeiteruhr eingegangen. Die Chronometergenauen Stiftankerhemmungen waren aufgrund des hohen Einstellungsaufwands wieder in höheren Preislagen verfügbar. Allerdings waren diese Chrononeterwerte aufgrund des höheren Verschleißes der Stiftankerhemmung nicht von großer Dauer. Die Abriebspuren haben die fein eingestellte Stellung der Stifte wieder zunichte gemacht. Das ist der riesige Vorteil der heutigen harten Rubinpaletten im Anker. Deren härte lässt nahezu keinen Verschleiß zu.

Ich hoffe ich konnte damit deine Frage beantworten. 🙂

Konrad
1 Jahr zurück

Leon,
vielen Dank für die ausführliche und rasche Antwort. Hättest Du evtl. Informationen welche Oris (?) Kaliber in Chronometerversion angeboten wurden.

BG, Konrad

Leon von ChronoRestore
1 Jahr zurück
Antworten...  Konrad

Hey Konrad,
oh nein. Das weis ich leider nicht. Ich weis nur, dass es diese Uhren in der Chronometerqualität gab. Welche Hersteller und welche Modelle das waren kann ich leider nicht sagen. :/ Ich kann mir aber vorstellen, dass es davon höchstens ein oder zwei Kaliber gab, da es wirklich sehr aufwendig war die Hemmung so genau einzustellen und es ja damals schon die Palettenankerhemmung gab. Die Entwicklungen wurden dann eher darauf konzentriert.

Konrad
1 Jahr zurück

Leon,
das ist aber schade. Ich hatte insgeheim gehofft, dass Du etwas Licht ins Dunkel bringen könntest. Trotzdem noch einmal ganz herzlichen Dank!