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Jeder Uhrensammler kennt das Problem: Man plant einen entspannten Spaziergang auf dem Mars oder ein Stück Pizza fällt unglücklich in flüssigen Stickstoff – und plötzlich stellt sich die Frage: Funktioniert meine mechanische Uhr eigentlich noch bei -100 °C? Zugegeben, im Alltag ist diese Frage eher theoretischer Natur, doch die Kyrogenik (die Wissenschaft von extrem niedrigen Temperaturen) hält einige Überraschungen bereit. Heute möchte ich mit euch einen genaueren Blick auf das Verhalten mechanischer Uhren unter extremen Frostbedingungen werfen. Auch ein Vergleich mit der Quarztechnologie bei extrem niedrigen Temperaturen soll nicht fehlen.

Marathon GSAR Arctic Test 3
[Beitrag von Leon Zihang,
Uhrmacher und Kopf hinter ChronoRestore.com]
Leon Zihang Uhrmacher ChronoRestore

Was ist Kyrogenik?

Kyrogenik befasst sich mit der Erforschung von Materialien und physikalischen Prozessen bei sehr niedrigen Temperaturen, meist unter -150 °C. In der Industrie wird sie für die Lagerung von biologischen Proben, die Supraleitung und sogar für die Raumfahrt genutzt. Doch was passiert mit einer mechanischen Uhr, wenn sie Temperaturen ausgesetzt wird, bei denen Pinguine bereits nach beheizten Iglus suchen?

Die Herausforderungen für mechanische Uhren bei -100 °C

Mechanische Uhren bestehen aus einer Vielzahl von Materialien, die alle unterschiedlich auf Kälte reagieren. Während beispielsweise einige Metalle bei extremer Kälte stabil bleiben, werden andere spröde oder ändern ihre Eigenschaften drastisch.

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24-Stunden-Uhren: Für Jobs mit Vitamin D-Mangel (… und Piloten!)
Bild: Raketa

1. Schmierstoffe

Mechanische Uhren benötigen spezielle Schmiermittel, um das Reibungsverhalten der Zahnräder und Lager zu optimieren. Die meisten herkömmlichen Uhrenöle verdicken sich bei niedrigen Temperaturen oder frieren sogar vollständig ein, was zu einem Stillstand der Uhr führt.

Da in der Uhrmacherei eigentlich nur noch synthetische Schmierstoffe zum Einsatz kommen, kann die Temperaturbeständigkeit in gewissem Maße beeinträchtigt werden. Diese Öle weisen eine deutlich bessere Funktionsfähigkeit bei niedrigen Temperaturen auf als ihr älteres natürliches Pendant. NASA-Tests mit der Omega Speedmaster bei -18 °C zeigten, dass die Uhr noch lief, allerdings mit erhöhter Reibung und minimaler Gangabweichung. Immerhin nur eine minimale Gangabweichung, aber bereits bei -18°C schon? -100 °C sind nochmal eine andere Hausnummer.

Mehr: Einfluss der Uhren-Öle auf Serviceintervalle – und was man als Kunde sonst beim Service beachten sollte [Leserbrief]

2. Spiralfeder und Unruh

Die Spiralfeder der Unruh ist entscheidend für die Ganggenauigkeit einer mechanischen Uhr. In der Regel bestehen diese Federn aus „Nivarox“ oder anderen temperaturkompensierenden Legierungen. Bei extremer Kälte kann sich das Material zusammenziehen oder seine Elastizität verlieren, was zu einer Veränderung der Schwingungsfrequenz führt. Die „Nivarox“- Spiralen sind schon sehr gut in der Temperaturkompensation, dies ist aber natürlich nur für die alltäglichen Temperaturschwankungen gedacht. Bei -100°C wird auch diese Legierung an ihre Grenzen kommen. Silizium-Spiralfedern könnten temperaturstabiler sein, allerdings gibt es bislang kaum Tests bei extremen Minusgraden.

3. Dichtungen und Gehäusematerialien: Sprödigkeit droht

Dichtungen, die für die Wasserdichtigkeit einer Uhr verantwortlich sind, bestehen oft aus Gummi oder Kunststoff. Bei Temperaturen um -100 °C werden diese Materialien extrem hart und können reißen, was zu Undichtigkeiten führt. Zudem können Glas und Metall ihre Form leicht verändern, wodurch es zu Spannungsrissen kommen kann. 

Hersteller wie Sinn verwenden spezielle Silikon-Dichtungen, die bis -45 °C getestet wurden – aber bei -100 °C? Fraglich.

Welche Versuche bei mechanischen Uhren gab es bisher?

Es gibt nur wenige dokumentierte Tests mit mechanischen Uhren bei sehr niedrigen Temperaturen. Leider kann mein Gefrierschrank auch nicht mehr als -12°C, weshalb ich diese Tests auch nicht so einfach selbst durchführen kann. Dennoch gab es schon einige Versuche dazu. 

1. Omega Speedmaster im Weltraum

Die NASA testete die Omega Speedmaster Professional Moonwatch vorher in Vakuumkammern bei Temperaturen von -18 °C bis +93 °C. Die Uhr bestand die Tests, allerdings ist -18 °C weit von -100 °C entfernt.

2. Sinn Arktis

Sinn Spezialuhren testet beispielsweise das Modell 206 Arktis II auf extreme Temperaturen und gibt eine Einsatzfähigkeit bis -45 °C an. Hierfür wendet Sinn nach eigenen Angaben unter anderem ein Spezialöl mit einer alterungsbeständigen Schmierung im Temperaturspektrum von –45°C bis + 80°C.

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Bild: Sinn

3. Rolex Explorer und Expeditionen

Die Rolex Explorer war bereits auf dem Mount Everest im Einsatz, wo Temperaturen von bis zu -60 °C herrschen können. Sie lief weiter, wenn auch mit erhöhter Gangabweichung.

Ein weiteres Beispiel in diesem Kontext: 1952 stattete die Rolex-Tochter Tudor die britische Nordgrönlandexpedition mit Oyster Prince-Uhren aus und bat die Besatzung, darüber zu berichten, wie sich die Uhren bei extremen Wetterbedingungen bewährten – die Rückmeldung war, dass diese „bemerkenswert genau“ blieben. 

Viele Extrembergsteiger und Forscher in der Antarktis setzen auf mechanische Uhren, da Batterien in Quarzuhren durch extreme Kälte schnell entladen werden können. Berichte von solchen extremen Reisen zeigen aber, dass mechanische Uhren oft bis -40 °C noch funktionieren, aber ab -50 °C bereits deutliche Gangabweichungen auftreten. Einige Expeditionsteilnehmer berichten, dass ihre mechanischen Uhren nach längeren Aufenthalten in extremer Kälte stehen geblieben sind und erst nach langsamer Erwärmung wieder funktionierten.

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Polarforscher; Sowjetische-Antarktis-Expedition-3

Vergleich mit Quarzuhren

Mechanische Uhren haben bei extremen Temperaturen ihre Grenzen – doch wie sieht es mit Quarzuhren aus? Tatsächlich sind Quarzuhren oft widerstandsfähiger gegenüber extremen Temperaturen, da sie weniger bewegliche Teile enthalten und nicht unbedingt auf Schmierstoffe angewiesen sind. Dennoch gibt es auch hier Herausforderungen:

  1. Batterieleistung: Die chemischen Prozesse in Batterien verlangsamen sich extrem bei niedrigen Temperaturen, was dazu führen kann, dass eine Quarzuhr nicht mehr genug Energie hat, um weiterzulaufen. Viele Hersteller von Expeditionsquarzuhren setzen daher auf spezielle Batterien mit Kältebeständigkeit.
  2. LCD-Displays: Digitaluhren mit LCD-Anzeigen haben ein weiteres Problem – die Flüssigkristalle frieren bei extremen Temperaturen ein, was die Ablesbarkeit der Anzeige unmöglich macht. Einige Modelle verwenden daher alternative Anzeigemethoden oder beheizbare Displays.

Mechanische Uhren haben also durchaus ihre Berechtigung bei extremen Temperaturen, da sie keine Elektronik enthalten, die durch Kälte versagen kann. Dennoch sind spezielle Quarzuhren oft die bessere Wahl für Expeditionen in tiefste Kälte.

Es gibt eine Reihe von G-Shock -Uhren, bei denen garantiert wird, dass diese bis zu -20 °C funktionieren. Die Low-Temp-LCD-Technologie findet sich beispielsweise in der Casio G7900 und der Specialist Rangeman, die ebenfalls hochwertige Lithiumbatterien verwenden, um arktischen Temperaturen standzuhalten. Es gibt dazu einige Erfahrungsberichte, die dies bestätigen (und darüber hinaus).

Ein weiteres Beispiel ist die aktuelle Breitling Emergency, für deren Bake eine Betriebstemperatur von –20 °C bis +55 °C angegeben wird. Moment, eine Bake? Tatsächlich: Die erstmalig 1995 veröffentlichte Breitling Emergency verfügt über ein Funkfeuer, das bei Aktivierung ein Signal auf der internationalen Notfrequenz von 121,5 MHz sendet. Diese Übertragung konnte bis zu 167 km weit empfangen werden und und mit großer Genauigkeit von den Behörden ausgewertet werden. Ursprünglich war die Emergency nur für lizenzierte Piloten erhältlich, aber schließlich wurde die Titanuhr der breiten Öffentlichkeit angeboten, nachdem ein Dokument unterzeichnet worden war, in dem man die Verantwortung anerkannte, im Falle eines Fehlalarms für Rettungsversuche zu zahlen. Anno 2003 wurde in der Daily Mail eine Geschichte publiziert, die aufzeigt, wie Polarabenteurer mit der Breitling Emergency ihr Leben retten konnten:

Weitere Einflüsse extremer Kälte auf Uhren

Neben den direkten technischen Auswirkungen gibt es noch einige unerwartete Effekte. Zum Beispiel verändert sich die Dichte der Luft in kalten Regionen, was theoretisch zu einem leicht veränderten Luftwiderstand innerhalb des Uhrwerks führen könnte – auch wenn dieser Effekt vermutlich minimal ist.

Ein weiteres Problem ist die Kondensation: Wird eine Uhr nach starker Abkühlung plötzlich wieder erwärmt, kann sich im Inneren Feuchtigkeit niederschlagen, was zu Rost oder Schäden an empfindlichen Komponenten führt. Dies sollte natürlich nur passieren, wenn die Uhr undicht ist. Dass die Dichtungen bei sehr geringen Temperaturen aber ihre Funktionsfähigkeit verlieren, ist dies auch ein Punkt, der in Betracht gezogen werden sollte.

Gibt es denn nun eine mechanische Uhr, die -100 °C übersteht?

Aktuell gibt es keine Serienmechanikuhr, die explizit für Temperaturen von -100 °C entwickelt wurde. Die besten Chancen hätten vermutlich Modelle mit:

  • Speziellen synthetischen Schmierstoffen für niedrige Temperaturen
  • Speziallegierungen für die Unruh-Spiralfeder z.B. Silizium Spiralen
  • Spezielle Silikon-Dichtungen oder Metall-O-Ringen

Allerdings ist die Nachfrage nach einer solchen „Antarktis-sicheren“ mechanischen Uhr naturgemäß extrem gering…

Fazit

Wer seine mechanische Uhr auf -100 °C abkühlen lassen möchte, sollte besser nicht erwarten, dass sie danach noch zuverlässig funktioniert: Öle gefrieren, Dichtungen brechen, Spiralfedern verlieren ihre Elastizität. In der realen Welt sind selbst Uhren für extreme Bedingungen meist nur im Bereich von -40 bis -50 °C mehr oder weniger zuverlässig getestet.

Ich hoffe euch hat der kleine Einblick in die extreme Kälte gefallen! Ich freue mich natürlich weiterhin über eure Rückmeldungen und auch gerne auf weitere Ideen für technische Berichte!

Bis zum nächsten Mal!

Euer Leon von ChronoRestore

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Sascha
2 Tage zurück

Hallo Mario. Das war ein sehr interessantes Thema. Hätte mir jetzt nicht gedacht, dass Quarz Batterien bei Kälte so schnell den Geist aufgeben. Schade, jetzt kann ich meinen Urlaub auf dem Mars stornieren, denn ohne Uhrzeit erreich ich das Retour Raumschiff nicht.
Frank: Danke dir auch für den Sinn Kommentar. Hatte vor einigen Jahren auch Probleme mit meiner Sinn und bei Sinn konnte mir keiner helfen. Jetzt ist eine so schöne Sinn rausgekommen und ich habe mir gedacht ich kauf sie einfach, wird schon mittlerweile besser sein mit der Qualität. Aber wie ich hier lese. Dann lass ich es wieder. Ganz liebe Uhrengrüße Sascha

Frank T. aus MZ
4 Tage zurück

Hi Mario,
ein weiterer Punkt, um Deine Reihe der widrigen Einflüsse auf eine Armbanduhr zu vervollständigen – super! Der humoristische Einstieg passt imo zum ganzen Thema. Zu beachten gilt, dass eine Armbanduhr gemeinhin an einem ca. 37 Grad C warmen Heizstab (dem menschlichen Arm) hängt. Und bei empfindlichen Minusgraden zieht der Mensch gemeinhin den Ärmel der Polarjacke über die Uhr und/oder trägt Handschuhe bis über das Handgelenk. So wird eine Uhr nie die tatsächliche Außentemperatur ertragen müssen. Mein MIELE Gefrierschrank (made by LIEBHERR) kommt übrigens auf unter -20 Grad C :-). Ich sammle Militär-/Funktionsuhren. Nach meiner Erfahrung ist überall viel Marketing im Spiel. Wie Du sehr richtig erwähnt hast, werden heutzutage allerorten synthetische Uhrenöle verwendet. Hierbei übrigens verschiedene Sorten, je nachdem wieviel Schmierung das einzelne Bauteil benötigt. Große Hersteller verwenden in ihrer Uhrwerk-Produktion gar Ölautomaten, die auf das Mü genau Öl auftragen. Über Hersteller wie SINN mit ihrem exklusiven „Spezialöl“ kann ich entsprechend nur schmunzeln. Gerade SINN, bei denen nach meinem Kenntnisstand kaum eine Uhr fehlerfrei das Werk verlässt. Die Schmierung ist da das geringste Problem, wenn die Uhr schon unter Alltagsbedingungen stehen bleibt, nach dem Mond geht oder z. B. die Stoppfunktion ihren Dienst einstellt.
In diesem Sinne, schönes Wochenende!
Beste Grüße, Frank

Konrad
4 Tage zurück
Antworten...  Frank T. aus MZ

Guten Abend Frank,
es gibt durchaus sogenannte Spezialöle für extrem niedrige Temperaturen. In den guten alten Zeiten der Analog-Fotografie war es beispielsweise für uns völlig normal die Titanfolien der Schlitzverschlüsse unserer analogen SLRs sowie den Transportmechanismus vom japanischen Hersteller mit Deutschland Vertretung in Willich mit speziellen Schmierstoffen auch für Einsätze deutlich unter -40°C kältefest zu machen. Die Batterien wurden in speziellen „Packs“ unter der Parka am Körper getragen.
Mich würde darüber hinaus interessieren, woher Du Deine Kenntnisse über die Fehlerquote der Uhren von SINN hast. Ich kann nur festellen, dass mein SINN 244 TI Chronometer von 1997 immer noch innerhalb der Chronometernorm läuft. Ihr Gehäuse ist immer noch wasserdicht und auch häufige Einsätze unter magnetisch nicht einfachen Bedingungen haben sie bisher nicht feststellbar beinflusst. Lediglich die Tritiumaktivierung der Leuchtmasse ist nur noch rudimentär vorhanden – nach mehr als 2 verstrichenen Halbwertszeiten des Wasserstoff-Isotops ist das für mich normal (den Austausch der Leuchtmasse auf etwas „Moderneres“ habe ich mehrfach abgelehnt).

Frank T. aus MZ
4 Tage zurück
Antworten...  Konrad

Hallo Konrad,
wie oben beschrieben, werden heutzutage überall synthetische Hochleistungsöle für die Schmierung von Uhrenwerken verwendet. Das ist mittlerweile der Standard.
Zu SINN: Ich habe seit 1995 ca. 11 SINN Uhren erworben. In der Tat waren die Uhren bis 2000, zumeist Entwicklungen von Herrn Sinn, noch zuverlässig. Danach war mehr als die Hälfte erst nach 1 bis 3 Nachbesserungen akzeptabel. Eine U1000 traf z. B. bereits mit nicht funktionierender Stoppfunktion ein. Die zweite U1000 blieb nach 4 Jahren unvermittelt stehen. Der Kundendienst war stets bemüht, es kostet leider immer Zeit. Wer im SINN-Forum mitliest, sieht das sich das Qualitätschaos bei exorbitant steigenden Preisen durchgängig fortsetzt. Und dieses Forum ist heute alles andere als SINN-kritisch. Aber nun BTT zu den arktischen Temperaturen 😉

Admin
Mario
3 Tage zurück
Antworten...  Frank T. aus MZ

Danke für deine Ergänzungen, Frank!