Viertel vor Elf – das zeigt die Alpina-Taschenuhr eines namenlosen Soldaten in “Im Westen nichts Neues” an, der neben dem Protagonisten Paul Bรคumer steht, unmittelbar vor der letzten Schlacht. Im Inneren des Schutzdeckels kann man dabei das Foto von einem Mann und einer Frau erahnen – vielleicht die Eltern des Soldaten oder der Soldat selbst mit seiner Frau.
“Wie spรคt?”, fragt Bรคumer entkrรคftet.
“Noch 15 Minuten”, antwortet der Soldat neben ihm.
Eigentlich ist das ein รผberschaubarer Zeitraum bis zum erlรถsenden Waffenstillstand von Compiรจgne am 11. November 1918 um 11 Uhr, welche die Delegation des Deutschen Reichs mit den Franzosen im Ersten Weltkrieg ausgehandelt hat…
รber die Verfilmung von Remarques “Im Westen nichts Neues” und die Rolle der Alpina-Taschenuhr
Als Erich Maria Remarques Roman “Im Westen nichts Neues” im Jahre 1929 erschien, wurde er unmittelbar zum Bestseller und zu einem der grรถรten Antikriegsromane der Weltliteratur. Remarque (eigentlich Erich Paul Remark) beschreibt in seinem Roman die Erlebnisse des jungen Schรผlers Paul Bรคumer, der sich, angesteckt von der Kriegsbegeisterung seines Lehrers, mit seinen Klassenkameraden zu Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig an die Front meldet. Die Realitรคt sieht natรผrlich anders aus, das Buch dreht sich um die Grauen des Schlachtfelds, matschige Schรผtzengrรคben und die brutalen Kรคmpfe des Stellungskriegs. Remarque, der 1917 als Soldat an der Front in Flandern verletzt wurde, schilderte den Krieg an der Westfront schonungslos offen als apokalyptischen Irrsinn. Und das ist heute, in Zeiten des Ukraine-Krieges, aktueller denn je.
Edward Bergers โIm Westen nichts Neuesโ (Netflix) ist schon die dritte Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque. Atmosphรคrisch, schockierend brutal, perfekt inszeniert sind Umschreibungen, die mir spontan einfielen, nachdem ich den Film gesehen habe: Der ewige Regen verwandelt die von den Kรคmpfen zerstampften Ebenen Nordfrankreichs in Morast. Die Soldaten hocken verรคngstigt in Erdlรถchern. Sie kriechen durch Schlamm, sie waten durch Matsch, sie fallen in Granattrichter, die mit Wasser und Blut gefรผllt sind. Im Stacheldraht vor den Grรคben hรคngen Leichen, durch die Bunker rennen Heere von Ratten. Nach allem, was von den Zustรคnden an der Westfront im Ersten Weltkrieg bekannt ist, kommt das Bild, das der Regisseur zeichnet, der Realitรคt ziemlich nahe. Der รถsterreichische Schauspieler Felix Kammerer in der Rolle des Hauptakteurs Paul Bรคumer, der mitten drin in diesem Geschehen ist, ist obendrein eine perfekte Wahl.
Dass “Im Westen nichts Neues” als Oscar-Anwรคrter gehandelt wird und dass der Film in den allermeisten Lรคndern in die Top 10 der Netflix-Charts geklettert ist, verwundert in der Summe keineswegs.
Gleichzeitig muss ich sagen, dass mir der Bezug zur Romanvorlage dann doch etwas allzu locker ist – kรผnstlerische Freiheit und “Zusammendampfen” auf Kinoformat hin oder her: Wieso beispielsweise wurde der Unteroffizier Himmelstoร restlos gestrichen, der in seinem zivilen Leben Postbote ist und dem die Macht beim Militรคr zu Kopfe steigt? Auch der sehr eindringliche Lazarett-Besuch und die dortige, befremdlich wirkende Diskussion um die Stiefel eines im Todeskampf befindlichen Kameraden fehlt im Film. Die im Roman extrem intensive und verstรถrende Szene, in der Bรคumer mit einem von ihm selbst tรถdlich verwundeten franzรถsischen Soldaten eine lange Zeit in einem Bombentrichter verbringt, ist zwar im Film vorhanden – verkommt aber zu einer Randnotiz.
Auf der einen Seite wurden wesentliche Eckpfeiler des Buches gestrichen, gleichzeitig erfindet der Regisseur eher sinnlose Figuren hinzu, zum Beispiel den von Daniel Brรผhl gespielten Politiker Matthias Erzberger.
Zuschauer, die das Buch nicht gelesen haben, werden von der Netflix-Verfilmung aller Voraussicht nach begeistert sein – vor allem, wenn man Antikriegsfilme mag. Wer allerdings Remarques Roman kennt und diesen so bewegend fand wie ich, wird vermutlich auch eine gewisse Enttรคuschung verspรผren. Man fragt sich einfach warum grade die Serienexperten von Netflix sich fรผr einen Film mit einer Lรคnge von 2 Stunden 23 Minuten anstelle einer Miniserie mit x Folgen entschieden haben, um den Charakteren Raum zur Entwicklung zu geben. Chance verpasst!
Aber zurรผck zur symboltrรคchtigen Taschenuhr: Es handelt sich um eine klassische Taschenuhr des Schweizer Herstellers Alpina, die typisch fรผr die damalige Zeit war. Der “Vorlรคufer” von Alpina wurde schon 1883 durch den Uhrmacher Gottlieb Hauser in Form der Corporation dโHorlogers Suisse gegrรผndet. Es handelte sich dabei um eine Genossenschaft von Uhrmachern, Herstellern und Hรคndlern, die zu Beginn gemeinsam Bauteile fรผr Uhren kauften sowie deren Herstellung organisierten. Spรคter produzierte die Genossenschaft eigene Handaufzugskaliber und Uhren. 1901 registrierte die Genossenschaft den Namen Alpina als Marke.
Die in “Im Westen nichts Neues” gezeigte Alpina ist ein Modell aus vermutlich 14-karรคtigem Gelbgold mit Breguet-fรถrmigen Zeigern und Alpina-Handaufzugkaliber. Die Filmuhr kommt nach meinen Recherchen der Alpina-Referenz 449002 sehr nah kommt (Unterschiede muss man erst mal suchen, darunter der leicht vertiefte Alpina-Schriftzug; eine genauere Referenz konnte leider nicht recherchiert werden – ich freue mich aber รผber Kommentare).
Mir geht als Uhrennerd ja immer das Herz auf, wenn originalgetreue Requisiten Einzug in Filme halten – und in dem Sinne ist die Alpina mehr als passend, denn Taschenuhren wie diese waren in der Zeit des Ersten Weltkriegs weit verbreitet; meistens wegen der relativ hohen Kosten allerdings eher unter besser situierten Menschen und nicht unter Arbeiterkindern wie Paul Bรคumer, weshalb es inhaltlich auch Sinn ergibt, dass nicht Bรคumer selbst die Taschenuhr zรผckt.
Wie bereits Eingangs erwรคhnt, zeigt die Taschenuhr im Film Viertel vor Elf an, um zu untermauern, dass der erlรถsende Waffenstillstand gleichzeitig nah und doch so fern ist – denn Bรคumer und seine Mitsoldaten werden von einem geltungssรผchtigen General in eine letzte sinnlose Schlacht geschickt.
Gleichzeitig sei abschlieรend erwรคhnt, dass Taschenuhren damals langsam durch Armbanduhren verdrรคngt wurden, denn grade im rauen Feldeinsatz erkannten die Soldaten (hรคufig Unteroffiziere) den deutlich hรถheren praktischen Nutzen einer Uhr, die man nicht erst aus der Tasche kramen muss, um die Uhrzeit ablesen zu kรถnnen. Und so war die US Army-Trench Watch (Trench = engl. fรผr Schรผtzengraben) im Ersten Weltkrieg eine der allerersten von Bodentruppen am Handgelenk getragenen Uhren รผberhaupt. Spannend: Die ersten Trench Watches waren im Prinzip einfach nur umgebaute Taschenuhren, an deren Gehรคuse Bรถgen drangelรถtet wurden, um ein Lederband montieren zu kรถnnen…
Mehr: Field Watch und Infanterie-Uhr von gestern bis heute
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