• Beitrags-Kategorie:Uhren-Technik
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  • Lesedauer:10 min Lesezeit

Hallo liebe Uhrenfreunde! Heute dürfen wir uns wieder einer tollen Leserfrage widmen. Bevor ich aber erzähle worum es geht und die Frage beantworte, möchte ich dem Einsender danken und auch andere Leser dazu ermutigen immer gerne solche Fragen zu stellen. So kann ich sehen, welche technischen Details euch interessieren und euch über die Hintergründe dazu aufklären. Habt keine Scheu und stellt jederzeit eure Fragen. Ich bin mir sicher, dass da so einiges dabei sein wird, was auch viele andere Leser interessiert!

Nun aber zurück zum Thema – hier zunächst die Leserfrage:

„Hallo Mario und Leon,

als treuer Leser habe ich eine Frage:

Meine Alpina Alpiner – , ca. 3 jahre alt, meines Wissens mit Sellita
SW200 – läßt sich so gut wie nicht mehr über die Krone aufziehen: Ein paar Umdrehungen, wo es die ganze Schwungmasse mitdreht, dann dreht die Krone leer durch. Nach Schütteln läuft die Uhr normal. Da die Uhr keine Garantie mehr hat: ist es wirtschaftlich, zu reparieren? Neupreis unter
1000 Euro.

Interessensfrage: was würde ein Tausch des Werkes gegen SW-200 top kosten?

liebe Grüße“

[Beitrag von Leon Zihang,
Uhrmacher und Kopf hinter ChronoRestore.com]
Leon Zihang Uhrmacher ChronoRestore

Der oben genannte Fehler, dass man an der Krone dreht und sich die Schwungmasse mit dreht, ist vermutlich ein sehr bekannter. Für die, die es nicht kennen: Sobald man die Uhr von Hand an der Krone aufziehen möchte, erfährt man einen größeren Widerstand und die Uhr beginnt förmlich zu vibrieren. Dies liegt daran, dass sich der Rotor, der als Schwungmasse für den Automatikaufzug dient und bei Armbewegungen in Drehung versetzt wird, mit dreht. Dies ist natürlich nicht so angedacht und bremst spürbar das Aufziehen von Hand. Wenn man es hier übertreibt und zu fest an der Krone dreht, kann im besten Fall, wie vermutlich bei unserem Leser, das Gesperr außer Eingriff gehen und die Krone leer durchdrehen lassen oder im schlechtesten Fall können die Verzahnungen der einzelnen Zahnräder beschädigt werden.

Umgangssprachlich wird dieser Fehler als „Helikoptereffekt“ bezeichnet, weil die Schwungmasse wie die Rotorblätter eines Helikopters zum Drehen beginnt und die Uhr starke Vibrationen nach außen gibt.

Tatsächlich ist dieser “Helikoptereffekt”, gerade bei dem genannten Werk Sellita SW200, nichts Neues und könnte als Kinderkrankheit dieses Werkes bezeichnet werden. Dies ist aber kein Problem, wenn man den Fehler rechtzeitig erkennt und es, wie oben schon gesagt, beim Drehen an der Krone nicht übertreibt.

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Helikoptereffekt: Technische Grundlagen

Nun möchte ich aber erst einmal darauf eingehen, wie dieser Helikoptereffekt entsteht und warum sich die Schwungmasse beim Drehen an der Krone überhaupt mit dreht.

Dafür beginne ich mit der Funktion des Handaufzugs: In Abbildung 1 unten könnt ihr eine schematische Darstellung eines solchen Handaufzugs sehen. Die Drehung der Krone (10) wird über die Aufzugwelle (9) in das Innere des Uhrwerks weitergeleitet.

Das Kupplungstrieb (7), das auf einem Vierkant auf der Aufzugwelle (9) sitzt, gibt die Drehbewegung über eine Sägeverzahnung an das Kupplungsrad (8) weiter. Über einen 90° Winkel wird auch das Kronrad (15) vom Kupplungsrad (8) in Drehung versetzt. Im letzten Schritt übergibt das Kronrad (15) die Drehbewegung an das Sperrrad (16), welches die Zugfeder im inneren des Federhauses spannt. So findet der Komplette Kraftverlauf beim Aufziehen von Hand in eurer Uhr statt.

Bei Automatikuhren kommt aber nun noch eine weiter Möglichkeit des Aufzugs hinzu. Und zwar der Aufzug über die Schwungmasse mit dem Automatikgetriebe. In Abbildung 2 könnt ihr wieder eine schematische Darstellung eines Automatikgetriebes sehen. Hierauf möchte ich nun etwas kürzer eingehen, weil ich diesen Mechanismus in folgendem Bericht schon einmal genauer erklärt habe: Automatikuhr Aufziehen: Technische Hintergründe zum Handaufzug über die Krone

Durch unsere Armbewegung wird die Schwungmasse (1) in Drehung versetzt und gibt diese Drehung über das Rotortrieb (2) und die beiden blau eingezeichneten Klinkenräder an das Mitnehmerrad für Sperrrad (9) weiter. Die beiden Klinkenräder dienen dazu, die in beide Richtungen drehende Schwungmasse in eine gleichgerichtete Drehung umzuwandeln. Dies gewährleistet, dass sich, egal in welche Richtung sich die Schwungmasse dreht, das Sperrrad immer in die gleiche Richtung dreht. Sonst würde die Zugfeder im Federhaus ja immer wieder durch das Automatikgetriebe entspannt werden.

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Der Knackpunkt

Und genau an dieser Stelle kommen wir schon zu unserem Problempunkt. Sowohl der Handaufzugsmechanismus als auch der Automatikmechanismus greifen gleichzeitig in das Sperrrad ein und werden darüber miteinander verbunden. Wenn wir also von Hand aufziehen wird die Drehbewegung der Krone über das gesamte Handaufzugsgetriebe über das Sperrrad bis in das Automatikgetriebe weitergeleitet.

Die Aufgabe der Klinkenräder liegt aber nicht nur darin die Drehrichtungen der Schwungmasse in eine gleichgerichtete Drehrichtung umzuwandeln, sondern eben auch die Schwungmasse von der Drehung beim Aufziehen von Hand zu entkoppeln. Wenn sich beim Handaufzug also der Rotor mit dreht, dann liegt der Fehler bei den Klinkenrädern, welche ihr in Abbildung 3 nochmal genauer betrachten könnt. Genauer gesagt funktionieren hier die Klinken nicht mehr richtig und sperren den Freilauf, obwohl sie dies nicht sollen. Dies liegt meist daran, dass der feine Schmierfilm, mit dem die Klinken und das kleine darin befindliche Sperrrad überzogen sind, nicht mehr ordentlich funktioniert.

Die Lösung des Problems liegt also darin diesen Schmierfilm wiederherzustellen. Dazu muss der Rotor und das komplette Automatikmodul vom Uhrwerk demontiert werden und in Einzelteilen durch die Reinigungsmaschine geschickt werden. Danach wird wieder alles ordentlich montiert und an den benötigten Stellen geölt. Die Klinkenräder werden dabei mit einer speziellen Tauchschmierlösung benetzt, um eben diesen vollständigen Schmierfilm wiederherzustellen. Danach sollte alles wieder reibungsfrei funktionieren und der Rotor sollte sich bei dem Aufziehen von Hand nicht mehr mit drehen.

Mehr: Einfluss der Uhren-Öle auf Serviceintervalle – und was man als Kunde sonst beim Service beachten sollte [Leserbrief]

Der Prozess, um den Helikoptereffekt zu beseitigen, kostet im reinen Arbeitsaufwand ca. 60€ und ist somit definitiv kein wirtschaftlicher Totalschaden. Allerdings kann sich bei der Bearbeitung, je nach Fortschritt des Verschleißes, herausstellen, dass die Abnutzungen der Teile im Automatikgetriebe schon sehr stark vorangeschritten sind. Dies äußert sich meist durch sichtbaren Schleifstaub, welcher vom Automatikgetriebe direkt ins Räderwerk der Uhr fällt. An dieser Stelle sollte man sich direkt Gedanken über eine Komplettrevision machen, da dieser feine Schleifstaub zu erhöhtem Verschleiß im Rest des Uhrwerks führen wird und die Lebensdauer damit deutlich verringert. Eine Komplettrevision für ein Sellita SW200 kostet bei mir im ChronoRestore-Service mit allem „Drum und Dran“ (wie unserer Versandbox mit versichertem Wertversand) selten mehr als 360€.

Mehr: Rolex: Revision am Beispiel des Kalibers 3131 erklärt

Hier stellt sich nun vielen die Frage, ob ein Werktausch hier nicht günstiger sei, weil sich eine Revision ja kaum lohnen würde. Diesen Zahn muss ich euch leider ziehen: Bei einem offiziellen Ersatzteilhändler, wie z.B. Boley, wird ein SW200 für um die 310€ verkauft. Mit dem zweimaligen Wertversand (50€) und dem Werktausch selbst (ca. 100€) liegt man hier in einem Bereich von ca. 100€ mehr. Nun bringen viele an, dass man ja dann ein komplett verschleißfreies neues Uhrwerk erhält. Ich sage aber, dass man zwar ein neues, aber nicht eingelaufenes Uhrwerk mit dem deutlich größeren Risiko eines erneuten Helikoptereffektes erhält. Bis jetzt habe ich nur werkneue Uhren mit diesem Fehler erhalten. Nachdem ich das Automatikgetriebe gereinigt und frisch geölt habe, habe ich noch nie eine Uhr mit dem gleichen Fehler zurückerhalten. Ich bin durch meinen Uhrenservice ChronoRestore vielleicht etwas voreingenommen, aber ich bin starker Vertreter davon, dass sich bereits ab einem Werk wie dem Sellita SW200 oder auch ETA2824 eine Revision eher als ein Werktausch lohnt. Manchmal bleibt auch bei ETA oder Sellita kein Werktausch aus, keine Frage, aber in der Uhrenindustrie werden genügend billige Wegwerfuhren produziert, welche meist nicht mehr als 10 Jahre durchhalten und danach weggeworfen werden, weil sich eine Reparatur oder Revision nicht mehr lohnt. Ein ETA oder Sellita-Werk kann euch bei der richtigen Pflege und einem regelmäßigen Service ohne großen Verschleiß ein Leben lang begleiten.

Ich hoffe, dass euch dieser Bericht gefallen hat und ich euch die Ursache des Problems schildern konnte. Ich freue mich über eure Rückmeldung in den Kommentaren!

Bis zum nächsten Mal!

Euer Leon von ChronoRestore

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3 Kommentare
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Oliver
25 Tage zurück

Vielen Dank für die klasse Erklärungen. Wie immer sehr informativ.

Wladimir
3 Monate zurück

Vielen Dank für den wie immer technisch sehr interessanten Artikel. Macht weiter so!

Martin
3 Monate zurück

Hallo Leon,
vielen herzlichen Dank für den interessanten und ausführlichen Artikel.
Ich hatte nun schon ein paar Uhren mit Helikoptereffekt, gottseidank in der Garantiezeit – Garantierepararatur.
Thema Nachhaltigkeit von Automatikwerken:
ich hatte auch schon zweimal eine Reklamation wegen Ganggenauigkeit bei Swatch-Group Uhren mit Powermatic 80: excellenter Service, aber jedesmal ein neues Uhrwerk eingebaut, das deutlich besser lief. Das Gleiche zweimal bei Seiko 6R35: jedesmal neues Werk, das aber genauso schlecht lief…
Liebe Grüße
Martin